Montag, 1. November 2021

Javier Marías: Berta Isla ★★★★★

 Javier Marías: Berta Isla  ★★★★★

Cover: Fischer

Der große Sprachmeister und -akrobat Javier Marías hat wieder zugeschlagen! Punkto Sprache gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens geht es um Tomás, der zweisprachig aufwächst und in beiden Sprachen perfekt ist. Seine Frau Berta lehrt ebenfalls Englisch an der Madrider Uni. Und dann natürlich das Sprachkunstwerk des Autors selbst. 

Tom und Berta kennen einander von Jugend an und es ist klar, dass sie auch später ihren Lebensweg gemeinsam gehen werden.

Aber da passiert etwas Unerwartetes in Oxford, wo Tom studiert. Es wirft ihn und Berta komplett aus der Bahn, beider Leben gerät aus den Fugen.


Toms Vater ist Engländer, seine Mutter Spanierin. Er wächst zweisprachig auf und ist, wie bereits erwähnt, in beiden Sprachen perfekt. Er kann sich in jeden regionalen Dialekt akzentfrei hineinversetzen, er kann Personen sprachlich imitieren, und und und.

Zum Studium geht Tom nach Oxford, Berta bleibt in Madrid. Für beide ist klar, dass sie während der Trennung nicht asexuell weiterleben werden; von beiden ist das akzeptiert.

Peter Wheeler, seinem Professor in Oxford, fällt Toms sprachliches Talent ganz besonders auf. Es ist ein offenes Geheimnis am Institut, dass er Geheimdienst-Vergangenheit hat (man verzeihe mir das kleine Wortspiel). Und tatsächlich: Eines Tages spricht er Tom offen darauf an, ob er mit seinem sprachlichen Können nicht dem MI5 oder MI6 dienen möchte. Er macht ihm dieses Leben schmackhaft, indem er ihm erklärt, wie wichtig diese Arbeit ist und wie außergewöhnlich; er würde sich jedenfalls von der Masse abheben und in das geschichtliche Geschehen eingreifen können.

Doch Tom lehnt ab.

Kurze Zeit später ist er wieder bei seinem Zeitvertreib Janet; ich verwende absichtlich nicht das Wort "Freundin" oder "Partnerin", denn das trifft es nicht. Zeitvertreib passt schon. Als er am Abend ihre Wohnung verlässt, bemerkt er noch einen Fremden, der sich in der Nähe des Hauseingangs herumtreibt und dann im Haus verschwindet.

Am nächsten Tag bekommt Tom am Institut Besuch von der Polizei. Janet ist tot und alle Spuren und Indizien weisen auf ihn. In seiner Verzweiflung wendet er sich an Peter Wheeler, der ihm umgehend einen Anwalt empfiehlt. Der macht Tom gleich beim ersten Treffen klar, dass es für ihn nicht gut aussieht und dass er praktisch nur die Wahl hat zwischen vielen Jahren Gefängnis oder Mitarbeit beim Geheimdienst. Der würde außerdem das Problem Janet und deren plötzlichen Tod diskret aus der Welt schaffen.

Als Leser ist uns klar: Hier wurde Tom eine Falle gestellt, um ihn in den Geheimdienst zu zwingen. Später werden wir sehen, dass die Vermutung mit der Falle richtig war, aber ganz anders, als wir (ich) glauben.

In diesem ersten Teil erzählt ein allwissender Erzähler.

Im zweiten Teil wechselt die Perspektive auf die Ich-Erzählerin Berta. Als Tom das nächste Mal nach Madrid zurückkommt, spürt sie eine Veränderung an ihm. Es ist nur ein allgemeines Gefühl und sie kann es nicht richtig festmachen. Sie heiraten, bekommen zwei Kinder, Tom arbeitet sehr erfolgreich an der britischen Botschaft in Madrid. Immer wieder muss er auf Dienstreise nach London; seine Rückflüge sind aber im Voraus nie geplant, sondern er kommt mal früher, mal später zurück. Auf entsprechende Fragen bekommt Berta keine Antworten. Doch, eine: Tom darf nicht darüber sprechen.

Als ihr klar ist, dass Tom Geheimdienstler ist, entspinnt sich in Folge ein langer Dialog über Sinn und Unsinn von Geheimdienst-Aktivitäten. Beide Seiten bringen gute Argumente für und wider vor. Meiner Meinung nach eine zentrale Stelle des Romans!

Etwa 1980 – Tom ist wieder einmal in London – bekommt Berta in ihrer Wohnung Besuch von einem Paar mit offensichtlich irischem Akzent. Im Laufe des Gesprächs wird immer deutlicher, dass sie Abgesandte der IRA sind und Tom via Berta eine Warnung zukommen lassen, sich bloß nicht in irische Angelegenheiten zu mischen. Um diese Drohung zu unterstreichen, lässt der Ire wie zufällig ein paar Tropfen Feuerzeug-Benzin auf das Bettzeug von Bertas Baby tröpfeln und spielt demonstrativ mit dem Feuerzeug herum. Nach endlosen Sekunden klappt er endlich das Feuerzeug zu und die Gefahr ist zunächst einmal vorüber. Aber vergessen wird Berta diese Szene nie mehr wieder!

1982 überfällt Argentinien die Falkland-Inseln und das Vereinigte Königreich unter Margaret Thatcher nimmt den Fehdehandschuh auf. Auch Tom wird in diesen Konflikt reingezogen. Im März 1982 verabschiedet er sich von Berta auf dem Flughafen. Der Krieg dauert nur drei Monate, aber Tom kommt nicht zurück. Auch die nächsten Monate nicht, auch die nächsten Jahre nicht.

Tom wird sogar für tot erklärt und Berta ist jetzt offiziell Witwe. Aber irgendwie spürt sie, dass Tom noch lebt und irgendwann doch noch zurückkommen wird.

Sie wird recht behalten. Tom wurde abgeschaltet und lebte die letzten fünf Jahre irgendwo auf dem Land als Lehrer, wo ihn niemand sucht; selbstverständlich mit neuer Identität und neuer Historie. Nach diesen fünf Jahren ist die Lage um ihn soweit abgekühlt, dass er nach London ziehen darf.

Dort hat er allerdings nichts zu tun. Und so besucht er sämtliche Theater und Museen, die London zu bieten hat. Im Wachsfigurenkabinett macht er eine derart erstaunliche Entdeckung, dass er sofort ein Treffen mit seinem Geheimdienst-Chef arrangiert. Bei diesem Treffen erfahren wir auch mehr über die Falle, die zur Rekrutierung Toms geführt hat. Außerdem erhält er das OK für seine Rückkehr nach Madrid.

Der letzte Teil beschreibt die mühsame Wiederaufnahme Toms durch Berta und die Kinder. Er war immerhin 12 Jahre weg, Berta ist Witwe, die Kinder sind Waisen. Sie führt darüber die ersten zwei Jahre Tagebuch, danach gibt sie das auf.

Jetzt, mehr als 20 Jahre nach seiner Rückkehr (wir sind bereits im Jahr 2017), arbeitet sie diese Mitschriften auf. Offenbar arbeitet Tom nach wie vor an der britischen Botschaft in Madrid.


Der Plot, von ganz weit oben betrachtet, ist relativ simpel und wurde sicherlich schon etliche Male literarisch verarbeitet: Jemand wird mit Hilfe einer Falle rekrutiert, verschwindet dann jahrelang, kehrt zurück und gliedert sich als Fremdling wieder mühsam in die Gesellschaft ein.

Aber wie Javier Marías das erzählt, und von wie vielen Seiten er die Problematik schildert, das ist eben das Besondere an diesem Buch. Ja, auch hier gibt es wieder Sätze, die über eine ganze Seite gehen können, auch hier gibt es wieder seitenweise Reflexionen zu Gedankenblitzen, die eigentlich nur den Bruchteil einer Sekunde ausmachen. Aber das ist halt sein Stil: Sehr genau, tiefschürfend und tief schürfend. Ich gebe zu, das muss man mögen.

Ich mag es. Wieder ein großer Wurf des Meisters!


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