Mittwoch, 28. August 2019

Jón Kalman Stefánsson: Fische haben keine Beine ★★★★☆

Jón Kalman Stefánsson: Fische haben keine Beine 

 
Cover: piper

Nach den ersten paar Seiten dachte ich: Moment mal, diese Namen, diese Geschichte, diese Orte, die kenne ich doch? Stimmt, denn ich hatte im Vorjahr "Etwas von der Größe des Universums" gelesen; dieser Roman ist nicht einfach die Fortsetzung von dem hier beschriebenen. Es gibt zwar Überlappungen in der Handlung, aber nicht allzu viele. Es sieht für mich so aus, als wäre der Autor nach "Fische haben keine Beine" draufgekommen, dass diese Geschichte und die handelnden Personen noch wesentlich mehr hergäben und dann eben "Etwas von der Größe des Universums" nachreichte. 

In beiden Romanen erfährt man also Dinge, die einander ergänzen. Wer bisher weder den einen noch den anderen gelesen hat, sollte vielleicht doch mit dem ersten beginnen, aber es ist kein unbedingtes Muss.


Nachdem die handelnden Personen in beiden Werken die gleichen sind, hab ich das Personenregister, das ich mir schon im Vorjahr angelegt hatte, nur noch um die neuen Erkenntnisse ergänzt.

Als Rahmenhandlung dient die Rückkehr Aris von Dänemark nach Island, wo er seinen kranken Vater besuchen möchte. Er hatte vor zwei Jahren von einem Tag auf den anderen seine Familie verlassen und hat in Dänemark Ratgeber-Bücher lektoriert. Sein Freund und Cousin, der namenlosen Ich-Erzähler, erwartet ihn am Flughafen. Aber nicht nur er, sondern auch Aris Noch-Ehefrau hat von der Rückkehr erfahren und hat dem Zoll einen anonymen Tipp gegeben, dass da einer einzureisen versucht, der eventuell Drogenkurier ist. Die deshalb sehr eingehende Untersuchung Aris am Flughafen durch dessen Cousin ist wirklich köstlich beschrieben.

Überhaupt ist es die sehr bildhafte und manchmal sehr poetische Sprache, die diesen Roman ausmacht. Manchmal schrammt er dabei haarscharf am Kitsch vorbei, aber meiner Meinung nach hat der Autor jedesmal noch die Kurve genommen. Trotzdem zieh ich ihm dafür einen Punkt ab, sonst wären es glatt fünf!

Natürlich kommen alle Probleme Islands und seiner Einwohner wieder zur Sprache. Fisch und Fischverarbeitung, Quotenregelung, Meer, inner- und außereheliche Gewalt, lange Winter, Wetter, die US-Militärbasis, Selbstmordgedanken und Alkohol. Das Kapitel, in dem von der schwer alkoholkranken Tante erzählt wird, ist wieder einmal toll und sehr einfühlsam erzählt. Oder der Teil, in dem sich Oddur und Margret näherkommen; oder wie Tryggvi im Suff plötzlich aus dem Boot springt, weil er auf dem Mond leben möchte; oder wie Margret mit dem seit Wochen schreienden Sohn nicht mehr weiter weiß und mit ihm zum Ufer geht; oder wie die 15-Jährigen Ari und der Erzähler ein Mädchen anhimmeln, aber zu schüchtern sind, um es anzusprechen; oder Jullis Urlaub in Spanien; oder, oder, oder. Es gibt wirklich viele Stellen, die das Buch so lesenswert machen! Hier ein paar Beispiele:
Wir sind Mädchen, sagt Hulda noch einmal und spricht wie eine Erwachsene, als sie hinzufügt: Später wirst du einmal einen Mann heiraten, und der passt dann auf dich auf.
Aber ich will selbst auf mich aufpassen.
Ich weiß. Ich auch.
[...] aber er scheint nie ausruhen zu müssen, macht nie Pause, setzt sich nie, ist nie krank, nimmt keinen Urlaub, außer drei Wochen im Juli, in denen er mit der Familie nach Spanien fliegt, seine Frau plant die Reise, er liegt dann flach auf einem Liegestuhl am Swimmingpool des Hotels, sturzbetrunken in der knalligen Hitze, und rührt sich nicht, während seine Frau Campari süffelt, Liebesromane schmökert und mit anderen Isländern Besichtigungs- und Shoppingtouren unternimmt.
Auch dem Eisen entgeht nicht, wer sich drückt, wer schludert, wer zu lange Pause macht, er sieht alles, nur nicht die Eigenliebe seines Bruders und dessen Schludrigkeit in der Buchhaltung, oder er sah sie viel zu spät, die Schulden waren nicht mehr in den Griff zu bekommen, als er endlich den Durchblick gewann. Am Ende ist trotzdem alles noch einmal glimpflich ausgegangen: Skúli Million brannte ab, denn Schulden sind in Island immer ein vorzügliches Brennmaterial gewesen, sie müssen nur groß genug sein.
Auf dem Foto sind 365 Frauen zu sehen, ebenso viele, wie das Jahr Tage hat. Jede von ihnen ist missbraucht worden, sie wurden vergewaltigt, manche mehrmals. »Missbraucht vom eigenen Vater, von männlichen Angehörigen, Freunden, dem Pastor, vergewaltigt im eigenen Heim, in Gaststätten, in Hinterhöfen, auf Open-Air-Festivals, auf dem Rücksitz eines Lada Kombi.«
Aris Herz setzt einen Schlag aus.
Alles in allem also ein einfühlsames, liebevolles Buch über die Insel und ihre Bewohner, in dem auch der Humor nicht zu kurz kommt. Absolute Leseempfehlung!

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