Freitag, 9. Februar 2018

Jón Kalman Stefánsson: Etwas von der Größe des Universums ★★★★☆

Jón Kalman Stefánsson: Etwas von der Größe des Universums 


Cover: PIPER


Große Familiensagas, die sich über mehrere Generationen hinziehen, vermeide ich normalerweise. Bis jetzt habe ich nur "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez und "Das Geisterhaus" von Isabel Allende geschafft. Während ersteres Buch wirklich genial ist und ich es bereits mehrmals gelesen habe, halte ich zweiteres für eine müden Abklatsch des ersten; es hat keinen Eindruck bei mir hinterlassen und ich hab wirklich keinen leisen Schimmer mehr, worum es da ging - außer eben um die Geschichte einer Oberklassenfamilie in Chile. Die Buddenbrooks, Vom Winde verweht, Der Turm, Krieg und Frieden, Anna Karenina und wie diese Schmöker alle heißen, müssen sowieso noch warten, bis ich mehr Zeit für sie aufbringen kann...

Aber die Rezension dieses Buches in der F.A.Z. hat mich derart neugierig gemacht, dass ich es unbedingt lesen wollte, und zwar bald!

Sieht so aus, als hätte ich gerade einen weiteren Autor für mich entdeckt!


Männer haben üblicherweise sowieso Probleme, bei Verwandtschaftsverhältnissen den Überblick zu bewahren. Bei der "Schwester der Cousine seiner Großmutter mütterlicherseits" bin ich geistig spätestens bei der Cousine ausgestiegen; vielleicht auch ein Grund, warum ich Familiensagas eher meide. Als Verschärfung kommen hier aber noch die isländischen Namen dazu - was sich beim Lesen übrigens nicht so schlimm ausgewirkt hat, wie befürchtet. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich an Oddur, Tryggvi, Veiga, Sigga, Hallny und Svarvar.

Aber ohne Personenregister, das ich mir parallel zur Lektüre angelegt habe, wäre es nicht gegangen: immer wieder musste ich darauf zurückgreifen, vor allem im ersten Drittel. Das Register ist auch deshalb wichtig, weil die Erzählungen immer wieder abbrechen und erst später wieder fortgesetzt werden. Dadurch bleiben die Figuren zunächst noch im isländischen Nebel, erst später gewinnen sie Kontur und ein Gesicht, erst langsam kristallisieren sich Zusammenhänge und Verbindungen heraus. Von manchen Personen erfahren wir allerdings nie einen Namen, etwa vom Ich-Erzähler oder von Aris Mutter.

Die Rückkehr Aris von Dänemark nach Island liefert den Rahmen des gesamten Romans. In mehreren Zeitebenen werden die Erlebnisse der Personen geschildert - kein Wunder bei einem Roman, der mehrere Generationen umspannt. Der Autor ist hier sehr behilflich, indem er Zeit und Ort der nun folgenden Handlung den jeweiligen Kapiteln voranstellt.

Es würde an dieser Stelle natürlich zu weit führen, diesen Roman hier nacherzählen zu wollen, nicht einmal ansatzweise würde das gelingen. Aber es gibt schon ein paar Dinge, die sich wie rote Fäden durch das Buch ziehen: Die unterschiedlichen Landschaften Islands, der Fisch, die Seefahrt, die langen Winter und kurzen Sommer, damit zusammen hängend der Alkohol, die (sexuelle) Gewalt inner- und außerhalb der Familie, Freude und Stolz der Fischer, auch der Reichtum, der mit der Fischerei verbunden ist, die Sehnsucht, andere Länder zu besuchen oder dorthin auszuwandern, die US-Militärbasis, und zuletzt Krankheit, Unfälle und Tod. Auch die Liebe kommt vor, allerdings eher verhalten und sie nimmt nicht sehr viel Raum ein. Ein großes Problem ist oft die Sprachlosigkeit. Anna meint einmal zu Ari und Jakob, sie sollten endlich lernen, ordentlich miteinander zu reden! Vergeblich.

Und natürlich die Literatur. In Island ist anscheinend jeder Zweite entweder Dichter, Literat oder zumindest Abonnent einer Literaturzeitschrift. Auch das dürfte wieder mit den langen Wintern und der vielen verfügbaren Zeit zu tun haben. Es ist ja wirklich erstaunlich, wie viel Literatur Island in den letzten Jahrzehnten produziert hat, die auch den Weg außerhalb Islands gefunden hat; und das bei einer Bevölkerung von nicht einmal 400.000 Einwohnern! Halldór Laxness hat es 1955 bis zum Literaturnobelpreis geschafft!

Insgesamt lässt Jón Kalman Stefánsson ein Bild von Island vor uns entstehen, von seinen Bewohnern, deren Charakter, Humor und Schrullen und von der Landschaft, das neugierig macht und nach mehr verlangt. Noch dazu in einer sehr bildhaften und einprägsamen Sprache, die an den Stellen, an denen es passt, auch den Humor nicht vermissen lässt.

Der Rezensent in der F.A.Z. schreibt: "Das Buch hat etwas von der Größe der Weltliteratur". Da ist was dran, absolut.

Weitere seiner Bücher sind schon auf der Warteliste.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen