Freitag, 16. Februar 2018

Hans Magnus Enzensberger: Tumult ★★★★☆

Hans Magnus Enzensberger: Tumult 


Cover: Suhrkamp

Ein zufälliger Fund im Keller bringt alte Erlebnisse wieder hoch. Hans Magnus Enzensberger erinnert sich mit einem zeitlichen Abstand von 40-50 Jahren an die wilden 1960er-Jahre. Die waren weltweit, in Deutschland und auch für ihn persönlich voll von Tumulten. Es gibt also jede Menge zu erzählen; und das tut er auch, sehr interessant und sehr vergnüglich!

Im ersten Teil berichtet er uns von einer Studienreise 1963, zu der der sowjetische Schriftstellerverband eingeladen hat. Literaten aus vielen Ländern nehmen daran teil, und allen ist klar, dass sie sich auf einer Propaganda-Roadshow befinden. Aber da passiert plötzlich etwas Unerwartetes: ER persönlich sagt sich als Gast an und bringt so richtig Schwung in die Runde! Nikita Chruschtschow lädt den ganzen Tross nach Sotschi in seine Datscha ein. 

Teil zwei führt uns noch einmal in die Sowjetunion, allerdings ist Chruschtschow 1966 bereits im politischen Ausgedinge, Leonid Breschnew hat jetzt das Sagen. Anlass ist ein Friedenskongress in Baku, man lädt H.M.E aber ein, überhaupt eine mehrwöchige Rundreise durch die UdSSR zu machen - und zwar allein! Das heißt, nur begleitet von seinen beiden Dolmetschern bzw. Überwachern, mit denen er sich aber blendend versteht.

Auf dieser Reise lernt er auch seine zukünftige (zweite) Frau kennen, die er nach Überwindung zahlreicher sowjetischer Hürden tatsächlich in den Westen bringen und sie dort heiraten kann.

Dass sie dort zutiefst unglücklich ist, erfahren wir gleich zu Beginn von Teil 3. Da kommt sein um Jahrzehnte jüngeres Alter Ego ins Spiel und es entspinnt sich ein Dialog oder ein Interview zwischen den beiden, das den größten Teil des Buches einnimmt, und in dem es dann so richtig turbulent wird.

Denn H.M.E ist bei der Kommune I, bei den 1968er-Unruhen und vielen anderen Ereignissen dieser Zeit entweder mitten drin, oder zumindest nahe dran. Sei es, weil sein Bruder seine Wohnung an die Kommune I vermietet, oder sein Anwalt bei der Scheidung von seiner ersten Frau ausgerechnet Horst Mahler heißt, oder weil er Ulrike Meinhof und Andreas Baader kennenlernt, oder oder oder. Breiten Raum nimmt der Aufenthalt auf Kuba ein, bei dem sich seine russische Frau endlich etwas wohler fühlt. Das sind aber nur einige wenige Beispiele; in diesem Teil geht es auch inhaltlich turbulent und sprunghaft zu; und so gibt es noch unzählige weitere Episoden, die erzählt werden wollen.

Das alles ist sehr flott und leicht geschrieben, durchaus selbstkritisch, vor allem was sein persönliches Umfeld betrifft. Diese Leichtigkeit wirkt auf der anderen Seite aber so plastisch, dass man als Leser praktisch immer mit auf Reisen ist! Eine gelungene Fahrt durch ein aufregendes Jahrzehnt Zeitgeschichte!



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