Montag, 4. Juni 2018

Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. ★★★★★

Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft 


Kein Cover verfügbar
Das Buch dürfte im Moment nur antiquarisch verfügbar sein, selbst im Verlag (PIPER) ist es nicht zu finden

Im März 2017 war die Autorin Gast bei der "Literatur im Nebel" in Heidenreichstein.
Dabei gab es auch die Gelegenheit, Bücher signieren zu lassen.

Schweden schlug, glaube ich, zuerst Alarm, dann in kurzer Folge auch weitere Staaten im Westen Europas, auch Österreich war einigermaßen stark betroffen. Allen fiel auf, dass ziemlich viel Radioaktivität in der Luft lag. Als man die aktuellen Windverhältnisse berücksichtigte, war schnell klar, dass es irgendwo im Ostblock (ja, 1986 gab es noch den Eisernen Vorhang) einen gröberen Zwischenfall gegeben haben muss. 

Von der Sowjetunion hatte man allerdings noch nichts gehört.

Was sich damals an diesem 26. April 1986 in Tschernobyl abgespielt hatte und wie es sich abgespielt hatte, wollte Swetlana Alexijewitsch (Literaturnobelpreis 2015) aus erster Hand erfahren. Sie befragte daher vor allem Leute, die damals dort gewohnt hatten: wie sie diese Katastrophe erlebt hatten, wie sie informiert wurden, wie es für sie danach weiter ging. Und sie interviewte die sogenannten "Liquidatoren" - bzw. deren überlebende Angehörige. Denn diese Liquidatoren waren die Helfer, die ab dem Tag danach wirklich auf dem Dach der Reaktorruine standen und ungeheuren Dosen ausgesetzt waren. Und die vom weiteren Leben nicht mehr viel zu erwarten hatten.

Aus diesen vielen Interviews entstand ein außergewöhnliches, aufwühlendes, erschütterndes Buch, das einen einfach nicht kalt lässt. Man mag es kaum glauben, was die Leute da so erzählen.


Das Buch gibt es leider nicht als ebook. Was in diesem Fall besonders bedauerlich ist, weil ich mir zahlreiche Zitate markieren musste; und das geht bei einem ebook einfach effizienter, vor allem, wenn man die Zitate hinterher wieder finden möchte. Aber sei's drum, bin ich halt in der Bahn mit Buch und Bleistift gesessen statt mit ebook-Reader. Ich werde solche Zitate immer wieder an passenden Stellen in den Text einstreuen.

Die Erzählungen kreisen immer wieder um die gleichen Themen. 

Da sind einerseits die vielen Liquidatoren und deren Hinterbliebene. Viele dieser Ersthelfer haben sich freiwillig für dieses Himmelfahrtskommando gemeldet, viele aus Pflichtbewusstsein, weil sie die sowjetische Gesellschaft unterstützen wollten, und viele wurden einfach als Soldaten per Befehl abkommandiert.
Anstelle der üblichen Trostworte sagt ein Arzt zu der Frau eines sterbenden Mannes: “Nicht nahe herangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, er ist ein verseuchtes Objekt”. Dagegen verblasst selbst Shakespeare. Und der große Dante. 
Ich hatte gleich zu Anfang Schwächeanfälle, war immer schläfrig. Ich ging zum Arzt. “Alles in Ordnung. Die Hitze…” Die Kantine bekam aus der Kolchose Fleisch, Milch, saure Sahne geliefert, wir aßen alles. Der Arzt hat nichts davon angerührt. Das Essen wurde zubereitet, und er hielt im Kontrollbuch fest, dass alles normgerecht sei, hat aber selbst nie Proben genommen. Das haben wir bemerkt. So war die Lage.
Diese Aufnahmen … Die Gesichter der ersten Feuerwehrleute - schwarz wie Graphit. Und ihre Augen? Das sind bereits Augen von Menschen, die wissen, dass sie von uns gehen. In einem Ausschnitt sind die Beine einer Frau zu sehen, die am Morgen nach der Katastrophe im Garten dicht beim Atomkaftwerk gearbeitet hat. Sie ging durch Gras, Tau lag drauf … Die Beine gleichen einem Sieb, alles ist voller Löcher bis an die Knie … Das müssen Sie gesehen haben, wenn Sie so ein Buch schreiben... 
Wieder zu Hause, habe ich alle Sachen, die ich dort getragen hatte, in den Müllcontainer geworfen. Nur das Käppi hab ich meinem kleinen Sohn geschenkt. Er wollte es so gerne haben. Er hat es ständig getragen. Zwei Jahre später wurde bei ihm ein Hirntumor festgestellt ... Alles andere können Sie selbst hinzufügen ... Ich will nicht weiterreden. 

Weiters wollte die Bevölkerung natürlich wissen, warum plötzlich soviel Militär um sie herum ist. Die fallen hier ein, graben sämtliche Gärten um, zerstören ihr schönes Gemüse, erschießen massenhaft Tiere, reißen gar ganze Häuser nieder. Und wenn man sie zum Essen einlädt, lehnen sie dankend ab.
Statt Maschinenpistolen bekamen wir Spaten. Wir gruben Müllhalden und Gärten um. Die Frauen im Dorf schauten zu und bekreuzigten sich. Wir trugen Handschuhe, Atemschutzmasken, Tarnumhänge … Die Sonne brannte … Wir erschienen in den Gärten wie Teufel. Die Frauen begriffen nicht, warum wir ihre Beete umgruben, ihren Knoblauch und Kohl heraus rissen, wo das doch ganz normaler Knoblauch und ganz normaler Kohl war! Sie bekreuzigten sich und jammerten: “Ihr Soldaten, ist das Ende der Welt da?”
Im Haus brennt Feuer im Ofen, in der Pfanne brutzelt der Speck. Du hältst den Geigerzähler ran: kein Ofen, sondern ein kleiner Reaktor. “Setzt euch, Jungs! Kommt zu Tisch!” lädt man uns ein. Wir lehnen ab. 

Damit zusammenhängend: die Bevölkerung wurde kaum aufgeklärt, was wirklich los war. Das war auch mit ein Grund dafür, dass es so lange keine offizielle Stellungnahme der Sowjetunion gegeben hatte. Die Führung befürchtete Massenpanik und Aufstände, daher hatten die Einsatzkräfte Befehl, nicht zu viel Kontakt zur Bevölkerung zu halten; und wenn sich das schon nicht vermeiden ließ, sie dann wenigstens zu beruhigen und im Unklaren zu lassen. Das hatte den Effekt, dass Gemüse, Milch und Fleisch nach wie vor verkauft und verzehrt wurden.
Wir kamen in das Dorf Tschudjany - 149 Curie … In Malinowka - 59 Curie … Die Bevölkerung hatte Zehntausende Mal mehr Curie abbekommen als Soldaten, die Kernwaffentestgelände bewachen. Das Strahlenmessgerät knackte nur so, die Messskala war überschritten … In den Kolchosenbüros hingen Informationen, unterschrieben von den Kreis-Radiologen, dass Zwiebeln, Salat, Tomaten, Gurken gegessen werden können. Alles wachse, alles könne man essen. Was sagen sie heute dazu, diese Kreis-Radiologen? Die Sekretäre der Kreisparteikomitees? Was sagen sie zu ihrer Rechtfertigung? 
Was habe ich behalten? … Gleich in den ersten Tagen nach dem Unglück verschwanden alle Bücher über radioaktive Strahlung, über Hiroshima und Nagasaki, sogar über Röntgenologie aus den Bibliotheken. Auf Anweisung von oben, hieß es. Damit keine Panik entsteht. 
Wir trafen eine alte Frau. “Kinder, kann ich die Milch von meiner Kuh trinken?”
Wir sahen zu Boden, denn wir hatten Anweisung, Daten zu sammeln und keine engen Kontakte mit der Bevölkerung zu unterhalten.
Der Fähnrich fing sich als erster.
“Wie alt sind Sie denn, Omachen?”
“Ach, schon 80 oder darüber, die Papiere sind im Krieg verbrannt.”
“Dann trinken Sie ruhig die Milch.”
 
Die Dorfleute dauerten mich am meisten, sie litten schuldlos, wie Kinder. Tschernobyl hat sich ja nicht der Bauer ausgedacht, der hat eine eigene Beziehung zur Natur - keine eroberische, sondern eine vertrauensvolle, so wie vor 100, vor 1000 Jahren. Wie im göttlichen Plan … Sie verstanden nicht, was geschehen war, und wollten so gerne den Wissenschaftlern und jedem gebildeten Menschen glauben wie einem Geistlichen. Und man versicherte ihnen: “Alles ist gut. Nichts Schlimmes. Wascht euch nur vor dem Essen die Hände.” Ich habe erst Jahre später begriffen, dass wir alle beteiligt waren … An einem Verbrechen … An einer Verschwörung … (Schweigt.) 

Viele wollten oder konnten auch nicht glauben, was da passiert war. Die Radioaktivität ist unsichtbar, niemand kann sich darunter etwas vorstellen, die Folgen sind nicht unmittelbar, sondern treten erst mit Verzögerung ein, und die Äpfel und das Gemüse schmecken doch hervorragend wie immer. Oder etwa nicht?
Und wie ist sie [Anm: die Radioaktivität]? War sie vielleicht einmal im Kino zu sehen? Haben Sie sie gesehen? 
Im ersten Jahr durften zum Beispiel keine Gartenfrüchte verwendet werden - sie wurden trotzdem gegessen, sogar Vorräte wurden angelegt.
Schon Ende Mai, also einen Monat nach dem Unglück, trafen bei uns die ersten Lebensmittel aus der 30-Kilometer-Zone zur Kontrolle ein. Unser Institut arbeitete rund um die Uhr. Wie ein Armeeinstitut. In der Republik waren wir zu dem Zeitpunkt die einzigen, die über Fachleute und Spezialgeräte auf diesem Gebiet verfügten. Man brachte Innereien von Haustieren und Tieren aus der freien Wildbahn. Nach den ersten Proben war klar, dass wir nicht Fleisch, sondern radioaktive Abfälle vor uns hatten
Vor kurzem haben wir Neujahr gefeiert. Wir hatten eine festliche Tafel gedeckt, alles aus eigener Produktion: Geräuchertes, Speck, Fleisch, eingelegte Gurken, nur das Brot war aus dem Laden. Sogar den Wodka haben wir selbst gemacht. Alles echt Tschernobyl, wie man bei uns lästert: mit Caesium, Strontium als Beigabe. Wo soll man sonst etwas herkriegen? Die Regale in den Dorfläden sind leer, und wenn was reinkommt, können wir uns das mit unseren Gehältern und Renten nicht leisten. 

Sämtliches Arbeitsgerät, selbst Traktoren und Kräne, ja ganze Wälder, wurden in riesigen Gruben deponiert und mit Erde abgedeckt. Das Betreten der Zone war verboten. Eigentlich. Aber gegen ein kleines Bakschisch durfte man doch wieder hinein und versteckt unter Heu wurde so manches Werkzeug und so mancher Fernseher aus der Zone geschmuggelt und weiter verkauft. Wär ja auch wirklich schade drum. Das ging so weit, dass so manche dieser Gruben schlicht und einfach leergeräumt wurden.
Nach uns blieben die “Mogilniki” zurück. Die Hügel. Sie sollten später mit Betonplatten abgedeckt und mit Stacheldraht umzäunt werden. Zurück bleiben auch die Lastwagen, Geländewagen und Kräne, auf denen wir gearbeitet hatten: Metall hat die Eigenschaft, Radioaktivität zu speichern, zu absorbieren. Später soll das alles verschwunden sein. Gestohlen. Ich glaube das, bei uns ist alles möglich.
Sie fuhren Heu in Ballen raus. In den Ballen fanden wir dann Nähmaschinen und Motorräder. Schwunghafter Tauschhandel: Sie geben dir eine Flasche Selbstgebrannten für die Erlaubnis, einen Fernseher raus zuschaffen. 

Nach der Evakuierung waren die Betroffenen stigmatisiert, sowohl die ehemals dort Wohnenden, als auch die Liquidatoren. Danach wollte niemand mehr mit ihnen zu tun haben. Die Vorstellung war, dass sie in der Nacht leuchten. Als zukünftige Lebenspartner waren sie nicht mehr gefragt, weil das Risiko für die geplante Nachkommenschaft unklar war. Die Liquidatoren, die bereits verheiratet waren, wurden von ihren Frauen bis zum bitteren Ende betreut.
In einem Jahr war meine Tochter im Pionierlager, dort hatten die Kinder Angst, sie zu berühren. “Tschernobyl-Igel. Leuchtkäferchen. Sie leuchtet im Dunkeln.” Sie lockten sie abends in den Hof, um zu prüfen, ob sie leuchtet oder nicht.
Wir fahren nach Hause! Ich bekam eine spezielle Spritze, man zeigte mir, wie man damit umgeht. Ich musste ihn durch diese Spritze ernähren. Ich habe alles gelernt. Viermal am Tag habe ich etwas Frisches gekocht, habe es durch den Fleischwolf gedreht, durch ein Sieb gestrichen und in die Spritze eingezogen. 
Ich kam nach Hause zurück. Ging tanzen. Ein Mädchen gefiel mir.“Ich möchte dich näher kennenlernen.”“Wozu? Du warst in Tschernobyl. Von dir hätte ich Angst, ein Kind zu bekommen!”  

So geht das 300 Seiten lang. All das ist keine leichte Kost, es gibt erfreulichere Lektüre. Aber durch diese Schilderung von Einzelschicksalen gewinnt das Bild von dieser Katastrophe ungemein an Tiefe. Davor war es halt ein abstraktes Unglück: viele Menschen wurden evakuiert, viele Menschen mussten vor Ort die Drecksarbeit machen und alle haben danach irgendwie irgendwo weiter gelebt. Und all das war irgendwo weit im Osten. Außerdem ist es lange her.

Schwierige Materie, nicht jedermanns Sache, aber unbedingte Leseempfehlung!

3 Kommentare:

  1. Ich habe Erinnerungen an diese Tage: gebunkerte H-Milch, die am nächsten Tag von der Supermarktkette wieder zurückgeordert wurde; Rempeleien mit anderen Müttern im Geschäft um Mineralwasserflaschen; quengelige Kinder, die nicht verstehen, weshalb sie nicht mehr auf den Spielplatz dürfen. Widersprüchliche Nachrichten, widersprüchliche Verhaltensmaßregeln. Und über allem das Gefühl der eigenen, absoluten Hilflosigkeit.
    Ich bin nicht sicher, ob ich das Buch lesen möchte ...

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  2. Wir hatten eine Professorin an der Uni (Krebsforschung), die schon zu der Zeit in Wien in der Forschung war. Das Institut besaß einen Geigerzähler.
    Aus Neugier und Vorsicht glaubte sie den Berichten nicht, dass das Gemüse und Fleisch auf den Wiener Märkten sicher sei. Sie hatte zwei kleine Kinder. Deshalb hat sie alles, was sie an Lebensmitteln gekauft hat mit dem Geigerzähler überprüft - und nicht ein einziges Mal bedenkenswürdige Strahlung gemessen.
    Sie hat uns gesagt, dass sie natürlich nicht für alle Märkte oder für Märkte außerhalb von Wien sprechen kann, aber alles, was ihr in die Einkaufstasche geraten ist, war sicher.
    KTH

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  3. Gestern hier diesen Artikel gelesen, das hat schon für einen Alptraum heute Nacht gereicht, sehr ergreifend. HaWe

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