Sonntag, 20. Mai 2018

T.C. Boyle: América ★★★★☆

T.C. Boyle: América 



Cover: dtv

Im Kalten Krieg gab es in Europa den "Eisernen Vorhang". In Amerika gab und gibt es zwischen den USA und Mexiko den "Tortilla Curtain"; so heißt dieser Roman auch im Original und dieser Titel trifft den Inhalt weit besser als der deutsche. Denn es geht darin um die illegalen Einwanderer aus Mexiko, die diesen Tortilla-Vorhang tagtäglich überwinden und damit die die USA überschwemmen, sich dort irgendwie - meist kriminell - über Wasser halten und sich aufführen "wie die Tiere".

Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? Der Roman ist aber nicht erst gestern, sondern bereits 1995 erschienen, hat aber in Zeiten eines Präsidenten Trump, wie man sieht, nichts an Aktualität eingebüßt. Ganz im Gegenteil.



Eine ausführliche Inhaltsangabe und weitere Betrachtungen gibt es in der Wikipedia. Wer es noch viel ausführlicher mag, der sei auf die Seite von Dieter Wunderlich verwiesen.

Das Buch beginnt jedenfalls damit, dass Delaney Mossbacher und Cándido aufeinander treffen. Eher aufeinander prallen, denn Delaney fährt Cándido mit seinem Auto an und verletzt ihn dabei einigermaßen schwer. Cándido, ein Illegaler aus Mexiko, möchte aber kein Aufsehen, und so gibt er sich mit den 20 Dollar zufrieden, die ihm Delaney zusteckt. Auch der ist zunächst zufrieden, dass er so glimpflich aus der Sache herauskommt, erst zu Hause meldet sich sein schlechtes Gewissen.

Damit sind aber auch schon zwei der insgesamt vier Hauptpersonen genannt.

Delaney ist ein aufgeklärter Liberaler aus New York, den es vor einigen Jahren in das südliche Kalifornien verschlagen hat und dem die Grundrechte wichtig sind: freie Bewegung und Versammlung, keine Verurteilung ohne Beweis, freie Meinungsäußerung und so weiter.

Der Name Cándido ist eine Anspielung auf Voltaires "Candide", diesen unverbesserlichen Optimisten, der selbst dann noch an die "Beste aller Welten" (Leibniz) glaubt, als er von einem Unglück ins andere stürzt. Auch Cándido glaubt an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und träumt davon, dass er und seine Verlobte América (die Namensspenderin des deutschen Buchtitels) eines Tages in einem Haus mit Bad und Fließwasser leben werden. Die beiden werden aber im Laufe des Romans über einen aus Paletten zusammengenagelten Unterstand nie hinauskommen.

Dazu erfahren sie nämlich einfach zu viele Rückschläge. Nicht an allen, aber an einigen ist auch Delaney beteiligt. Immer wieder trifft Delaney auf Cándido, dieser entwickelt sich regelrecht zu seiner Nemesis. Und mit jedem Rückschlag bewegt sich Delaney etwas weiter weg von seinen Grundsätzen. War er zunächst noch gegen einen Zaun oder gar eine Mauer um ihre Neureichensiedlung herum, ist er zuletzt ein glühender Verfechter davon. Zum Schluss legt er sich gar bewaffnet auf die Lauer, um diese Mexikaner, die am letzten verheerenden Buschfeuer einfach schuld sein müssen, zur Strecke zu bringen. Delaneys Frau Kyra, eine erfolgreiche Immobilienmaklerin (die vierte Hauptperson) war von Anfang an für Zaun und Mauer und fühlt sich jetzt in allem bestätigt.

Die schwangere América glaubt immer weniger an den Aufstieg und möchte zum Schluss einfach nur noch zurück nach Mexiko, auch wenn sie dort nur die Zukunft einer Sklavin der eigenen Familie erwartet. In den USA hat sie keinen anderen Ansprechpartner außer Cándido, und selbst dem verschließt sie sich immer mehr, je länger sie in den USA sind und je mehr sie vom Pech verfolgt werden. Ausgerechnet als das Buschfeuer ihr Lager im Canyon erreicht, setzen bei ihr die Wehen ein, und in allerletzter Sekunde gelingt den beiden die Flucht vor dem Brand. Den letzten Knick bekommt sie, als sie für ihre blinde Tochter Socorro nichts tun kann, weil sie keinen Arzt aufsuchen kann.

Dieses Buch ist heute vielfach Schulliteratur und ist daher millionenfach analysiert und besprochen worden. Das erspar ich uns hier. Nur so viel: der Roman ist nach wie vor aktuell, keine Frage. Mir war er aber insgesamt etwas zu lang. Wir wissen bereits, dass Cándido und América Pechvögel sind; aber da wird noch eine Pech-Episode eingeschoben und noch eine und noch eine; da hätte man sicherlich kürzen können, ohne an Aussage und Dramaturgie zu verlieren. Insgesamt wird aber sehr gut und sehr eindringlich dargestellt, was es heißt, als sogenannter Illegaler in einem fremden Land mit fremder Sprache zu sein, nicht zu wissen, wo und wie man die nächste Nacht überstehen wird, ob man Arbeit als Tagelöhner bekommen wird, auch wenn sie noch so schwer und gefährlich und gesundheitsschädlich ist, oder ob einen im nächsten Moment nicht doch die Polizei aufgreifen wird.

Immerhin endet der Roman versöhnlich - überraschend versöhnlich sogar.

* * * * * * *

P.S: Am Ende des Buches ist noch ein Interview mit dem Autor aus dem Jahr 2013 abgedruckt. Auf die Frage nach Filmen und Regisseuren meint er, dass für ihn "die Coen-Brüder die wichtigsten Filmemacher unserer Zeit" sind.

Der Mann ist mir echt sympatisch!

1 Kommentar:

  1. Für Fans der Coen-Brüder ein TV-Tipp: Heute (21.5.18) um 20:15 Uhr auf ARTE "Inside Llewyn Davis"

    AntwortenLöschen