Mittwoch, 28. Dezember 2022

Robert Menasse: Die Hauptstadt ★★★★☆

Robert Menasse: Die Hauptstadt  ★★★★☆


Cover: SUHRKAMP

Robert Menasse bewies eine gewisse Portion Mut mit seiner Themenwahl. Denn die Europäische Union im allgemeinen und die Kommission im besonderen in den Mittelpunkt eines Romans zu stellen, kommt nicht alle Tage vor und das Thema löst wahrscheinlich bei vielen potentiellen Lesern lediglich ein tiefes Schlafbedürfnis aus.

Aber wer, wenn nicht er? Robert Menasse ist als glühender EU-Fan bekannt; noch dazu als einer, der die EU und ihre Institutionen gerne weiter entwickeln würde. Genau das kommt in seinem Buch immer wieder zur Sprache, besonders deutlich in der Person eines Wiener Professors, der ein Referat in einem EU-Think Tank hält.

Im Zentrum steht aber die Kommission, die mit einem Aufsehen erregenden Projekt ihr Image aufpolieren möchte. Welche Kräfte, Intrigen und persönliche Animositäten da bei der Planung im Spiel sind und welch ein Gezerre der einzelnen Abteilungen untereinander da stattfindet, ist schon sehr gut dargestellt! Da stecken viel Recherche und Wissen dahinter, das sieht man praktisch jedem Satz an!


Dieses Image-Projekt stellt aber nur einen Handlungsstrang dar, wenn auch den wichtigsten. Aber rundherum gibt es noch zahlreiche andere – und meiner Meinung nach zu viele:

  • Ein Mord in einem Hotel, man erfährt als Leser keine weiteren Details dazu
  • begangen von einem polnischen Auftragskiller
  • aufklären möchte ihn ein belgischer (Polizei-) Kommissar
  • der aber von einer geheimen Kraft daran gehindert wird (NATO ?)
  • Kindheit und Entwicklung des Killers in einem kirchlichen Umfeld
  • Einer der letzten Überlebenden von Ausschwitz übersiedelt in ein Seniorenheim
  • Der schon erwähnte Professor aus Wien, der ein Referat vor einem think tank vorbereitet
  • Und dessen Bruder, der dem Verband der Europäischen Schweinezüchter vorsteht
  • Kindheit und Entwicklung der beiden unterschiedlichen Brüder
  • Fenia Xenopoulou (genannt Xeno), eine zypriotische EU-Beamtin mit griechischem Pass, die das Image-Projekt plant
  • Bohumil, ihr tschechischer Mitarbeiter, der aber einen österreichischen Pass hat
  • Uwe Frigge (genannt Fridsch) ist ein mit Xeno befreundeter deutscher EU-Beamter aus einer anderen (mächtigeren) Generaldirektion
  • Der Sekretär des Kommissions-Präsidenten, der mit einem Nebensatz das Image-Projekt abschießt
  • Ein Sekretär eines Kommissars, der diesen Abschuss genüsslich weiter treibt
  • allein schon, weil er Brite ist und das Vereinigte Königreich traditionell immer gegen die Gemeinschaft gearbeitet hat
  • auch, weil UK bereits mitten im Brexit steckt
  • und auch, weil er damit seiner Kollegin eines auswischen kann, die bei einer Beförderung seinerzeit ihm vorgezogen wurde
  • Zum Schluss kommen noch die Terroranschläge von 2015 ins Spiel
  • Und nicht zuletzt taucht mitten in Brüssel ein Schwein auf, das zwar ein paar Mal gesichtet wird, ansonsten aber von der Bildfläche verschwindet. Alfred Hitchcock hatte es wahrscheinlich einen MacGuffin genannt.

Und wahrscheinlich hab ich jetzt noch einige Personen und Handlungsstränge gar nicht erwähnt. Manche Personen und ihre Handlungen treffen aufeinander, ohne es zu wissen; es entwickelt sich aber nicht mehr daraus. Gegen Ende werden die Handlungsstränge zu losen, dünnen Fäden, die schön langsam ausfransen – mal glaubwürdig, mal weniger.

Diese Fülle ist einfach zu viel. An vielen Stellen kam mir vor, Robert Menasse wollte sein unglaubliches Wissen unbedingt unterbringen und erfand daher noch eine und noch eine und noch eine Episode und Nebenhandlung.

Aber trotz dieser Schwächen halte ich das Buch für sehr gelungen! 

Besonders stark fand ich die Episoden, die rund um die Kommission und ihre Generaldirektionen stattfinden. Die diversen Scharmützel in der Beamtenschaft und der wirklich elegant eingefädelte Abschuss des Image-Projektes waren schon große Klasse!

Ganz stark war die Ansage des Wiener Professors, der den anderen Mitgliedern des think tanks vorwirft, dass sie zwar gewiss die Elite der der europäischen Vordenker darstellen, aber im Wesentlichen auf dem Status Quo verharren. Vor allem denken sie in den alten Mustern der Nationalstaaten, statt eine wirkliche Vision eines supranationalen europäischen Gesamtstaates zu entwickeln. Der Autor beklagt durch diese Person einerseits die gerade stattfindende Re-Nationalisierung der EU und andererseits, dass niemand da ist, der mit lauter Stimme dagegen auftreten würde. Im Gegenteil: Sobald jemand diese Idee aussprechen würde, würde sie von den Nationalstaaten sofort im Keim erstickt.

Da passt auch die starke Passage dazu, als Xeno überlegt, ob sie nun ihren griechischen Pass gegen einen zypriotischen umtauschen soll. Zypern hat sein Personenkontingent, das ihm in der Kommission zusteht, bei weitem noch nicht ausgeschöpft, mit einem zypriotischen Pass würden sich ihr demnach ungeheure Karrierechancen auftun. Soll sie? Soll sie nicht? Bei ihren Überlegungen kommt ihr dieser Nationalismus einfach irrwitzig vor.

Nehmt alles nur in allem: Trotz der vielen Handlungen ein gelungener Roman, der tiefe Einblicke in die EU-Mechanismen bietet. Wie gesagt: Mutig, so ein Thema überhaupt für einen Roman auszuwählen, Robert Menasse hat die Herausforderung jedenfalls erfolgreich gemeistert!

Sein Fortsetzungsroman "Die Erweiterung" ist bereits auf meiner Warteliste!

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