Robert Menasse: Die Erweiterung
★★★★☆
Cover: Suhrkamp |
Nach seinem ersten EU Roman "Die Hauptstadt" war ich schon sehr gespannt, was sich Robert Menasse zum Thema EU-Erweiterung hat einfallen lassen; zumal mir "Die Hauptstadt" damals recht gut gefallen hat.
Wieder ist ein Buch herausgekommen, das in der Entstehung unglaublich aufwändig gewesen sein muss. Dass er die EU und ihre Institutionen sehr gut kennt, hatte er ja schon beim ersten Roman bewiesen. Klar, dass er dieses Wissen hier ebenfalls wieder gut gebrauchen konnte.
Aber diesmal kam noch Albanien dazu, ein bei uns immer noch recht unbekanntes und fremdes Land. Und genau um die Aufnahme dieses Landes in die EU und um den Prozess, der da dahinter steht, geht es in diesem Buch.
Wie immer mit dem Robert Menasse eigenen Humor und Sarkasmus.
Das Buch hat immerhin 650 Seiten, wobei sich die erste Hälfte genau so darstellt, wie ich mir das erwartet hatte. Diskussionen, Ränkespiele und Politik bei den Albanern und bei der EU – sowohl im Inneren als auch gegenseitig. Diese 300+ Seiten lesen sich flott und sind wirklich gut gelungen.
Ein paar Personen sind übrigens leicht erkennbar, am einfachsten ist das sicher bei Edi Rama, dem derzeitigen Ministerpräsidenten Albaniens.
Robert Menasse nimmt ein paar Fakten aus der realen Welt, ergänzt sie um eigene Ideen und baut das Ganze dann kunstvoll zusammen. Nur ein Beispiel von vielen: Da gibt es etwa den Helm des Nationalhelden Skanderbeg, der sich in der Wiener Schatzkammer befindet. Zumindest zu Beginn, denn dann wird er nämlich gestohlen. Zur gleichen Zeit lässt sich Edi Rama von einem Einflüsterer dazu überreden, diesen Helm exakt nachbauen zu lassen und ihn dann innenpolitisch zu verwenden. Ich greife voraus: Plötzlich haben sie in Tirana beide Helme und wissen nicht, wie damit umgehen. Herrliche Geschichte, genau mein Humor.
Der zuständige Polizist in Wien hat einen Cousin, der jetzt in der EU-Kommission im Zuge der geplanten Erweiterung genau für Albanien zuständig ist; außerdem hat er noch einen guten Freund bei der Europol in Hamburg.
Dieser Cousin (Karl Auer) in der Kommission hat einen Kollegen in der gleichen Abteilung, der seinerzeit im Widerstand gegen das kommunistische Regime in Polen war. Sein bester Freund Mateusz bei der Ausbildung zum Widerständler war damals der jetzige polnische Premier (Jarosław Kaczyński). Der eine sah die Freiheit Polens in der EU, der andere bekämpft sie grade mit allen Mitteln (zumindest war das bei Erstellung des Romans noch so).
Bei einer Besprechung in Tirana auf Beamtenebene verliebt sich Karl Auer in sein albanisches Gegenüber Baia Muniq Kongoli. Wie diese Vorsitzende des parlamentarischen Justizausschusses zu ihrem Namen kam, ist eine weitere witzige Episode im Buch.
Aber man sieht schon: Die Verwicklungen und Verstrickungen bauen sich auf. Es bleibt aber nicht bei den schon genannten Handlungssträngen, sondern es werden immer mehr:
- eine SS-Division, die sich aus Albanern rekrutierte
- die Geschichte der albanischen Kanuns
- ein von Albanern geretteter junger Jude, namens Lenz (Albanien war übrigens das einzige europäische Land, das nach dem 2. Weltkrieg mehr Juden beherbergte als davor)
- dessen Enkelin, die jetzt Journalistin ist und sich wie eine Eingeschworene Jungfrau benimmt
- die dann auch noch ihre Wurzeln im Bergland des Nordens sucht
- die Familiengeschichte eines Regierungsberaters, dessen Eltern gegenüber Enver Hoxha gewohnt haben, bis sie in Ungnade fielen
- Aufstieg und Fall eines Mafiabosses
- und noch ein Handlungsstrang
- und noch ein
- und noch
- und
- ...
Einfach zu viele. Und zu jedem der genannten Punkte gibt es eine viele Seiten lange Geschichte. Die zweite Hälfte des Romans ist einfach nur mühsam und überdreht und quälend.
Spannend und gut wird es erst wieder gegen Schluss. Albanien lädt zum Nationalfeiertag die gesamte EU-Führung plus EU-Regierungschefs zu einer Kreuzfahrt auf dem neu gebauten Schiff "SS Skanderbeg" ein. Alle sind sie da – wie bei Agatha Christie. Plus einem ominösen Chinesen, der nur manchmal auf einem Überwachungsmonitor erscheint, aber gleich wieder untertaucht und den niemand kennt.
An sich genug Stoff, um auf dem Schiff den großen Showdown zu inszenieren.
Aber leider.
Jetzt muss auf dem Schiff auch noch Corona ausbrechen (der Chinese!). Gäste und Crew sind krank und geschwächt, es gibt sogar Tote. Das Schiff (als Metapher für die EU) schlingert führungslos durch das Mittelmeer und darf nirgends mehr anlegen.
Immer noch nicht genug Wendungen. Denn genau vor der SS Skanderbeg kentert ein Flüchtlingsboot und die Crew muss sich entscheiden, ob sie die Schiffbrüchigen aufnehmen soll/kann/darf oder nicht.
Fragen an Deck 8, auf dem sich die Staats- und Regierungschefs aufhalten, werden immer wieder nur mit "... aber die europäischen Werte" beantwortet. Sinnvolles ist von dort nicht zu erwarten.
Der Showdown ist aber kein Showdown, sondern nur ein stilles Ausklingen und offenes Ausfransen sämtlicher Handlungen ins Nichts. Nach 650 Seiten fand ich das ziemlich schwach und enttäuschend.
Schade. 300 Seiten und zwei Dutzend Nebenhandlungen weniger und es wäre ein wirklich guter, spannender und noch dazu informativer und witziger Roman entstanden.
Ein weiterer großer Minuspunkt sind die vielen Zitate in fremden Sprachen, die nicht übersetzt werden, sondern einfach so stehen bleiben. Gut, mit deutsch und englisch komm ich noch klar. Aber bei französisch, polnisch, italienisch und vor allem albanisch bin ich auf Übersetzung angewiesen.
Ich hab das Buch elektronisch gelesen; ich musste daher nur die Zitate markieren und via Internet übersetzen lassen. Selbst das ist schon mühsam und unterbricht den Lesefluss.
Aber jemand, der das Buch als Papierexemplar in Händen hält, ist auch noch gezwungen, diese Zitate sorgfältig und fehlerfrei abzutippen, um sie übersetzen zu lassen. Dieses Nicht-Service des Verlags ist wirklich ein Ärgernis!
Die vier Sterne gibt's trotz allem, denn die erste Hälfte hat sie sich verdient.
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