Donnerstag, 6. Juni 2024

Jarka Kubsova: Marschlande ★★★★★

Jarka Kubsova: Marschlande  ★★★★★


Cover: S. FISCHER

Britta zieht mit ihrem Mann und den beiden Kindern aus der Stadt Hamburg in deren Umland. Genauer in den Südosten, dort wo sich die Elbe in viele viele Nebenarme aufspaltet. Seit Jahrhunderten sichern Deiche dieses wertvolle und äußerst fruchtbare Land (die titelgebenden "Marschlande") vor Fluten der Nordsee.

Bei einem Spaziergang stößt Britta auf ein Straßenschild mit der Aufschrift "Abelke Bleken-Ring". Sie wird neugierig und beginnt zu stöbern.

Die Autorin Jarka Kubsova lässt Britta immer tiefer in die Geschichte dieser Abelke Bleken eintauchen. Sie muss dabei erfahren, wie diese starke, selbstständige Frau Ende des 16. Jhdts.  erst um ihren Hof gebracht, dann gebrochen und zuletzt – wortwörtlich – zerbrochen wird.


Im Buch gibt es zwei Erzählebenen. 

Die eine behandelt die Geschichte von Britta und ihrer Familie; und vor allem wie Britta immer mehr Details zum Fall von Abelke Bleken erfährt. Eine wichtige Hilfe ist ihr dabei die Historikerin Ruth Grothjahn.

Die zweite Ebene ist dann die Geschichte von Abelke Bleken selbst. 

Bei der Allerheiligenflut 1570 kann sie noch ein bisschen was retten, die meisten anderen ihrer Nachbarn verlieren aber alles. Das sorgt an sich schon für Geraune, wird aber noch verstärkt, dass Abelke Bleken allein – ohne Mann – wirtschaftet. Weil ihr Hof direkt an den Deich grenzt, ist sie auch für dessen Wiederherstellung nach der Flut verpflichtet. Üblicherweise bekommen die Bauern dann vom Deichvogt Hilfe bewilligt; was dann bedeutet, dass die Nachbarn mithelfen müssen, auch wenn ihr Hof nicht direkt am Deich liegt.

Hier ist es diesmal aber etwas anders, denn höhere Mächte haben schon andere Pläne. Der Deichvogt und ein Hamburger Ratsherr tun sich zusammen und bringen Abelke Bleken und weitere Bauern um ihren Hof. Denn der hohe Herr hat beschlossen, selbst ein Gut zu bewirtschaften.

Sie kommen an den Hof, indem sie zunächst eine nicht zu haltende Frist für die Wiederherstellung setzen und Abelke und ihrem Nachbarn keine Hilfe gewähren – die beiden müssen alles selbst bezahlen und erledigen. Als das erwartungsgemäß und wie beabsichtigt nicht gelingt, verfallen ihre Höfe und der Ratsherr greift zu. Diese Szene folgt einem genauen Ritual und wird im Roman sehr eindringlich geschildert. Abelke und ihre Nachbarin werden zu Tagelöhnern auf einem fremden Hof in der Nähe. Diese Methode, Bauern von ihren Höfen zu vertreiben, war weit verbreitet; es gab sogar den eigenen Begriff "Bauernlegen" dafür.

Als kurz danach Tiere des Ratsherren reihenweise verenden, als auch noch die Frau des Deichvogts stirbt, ist schnell klar, dass das nur durch Hexenumtriebe der rachsüchtigen Abelke Bleken verursacht sein konnte.

Das Unheil nimmt seinen Lauf. Bis zur Folter, bis zum Scheiterhaufen.

In Hamburg wurden mindestens 80 Personen (die Dunkelziffer ist sehr hoch, die Aktenlage schlecht), meist Frauen, als Hexen ermordet, in Deutschland schätzungsweise 50.000 bis 60.000. Das Besondere an Abelke Bleken ist, dass es von ihr eine Niederschrift ihres unter der Folter abgepressten Geständnisses gibt (Urgicht). Von allen anderen in Hamburg gibt es das nicht.

Auf der Jetzt-Ebene erkennt Britta gewisse Parallelen zwischen ihr und Abelke. Natürlich wird sie nicht als Hexe denunziert oder wird gefoltert; aber gewisse Ähnlichkeiten kommen zum Vorschein: Etwa der Verlust von Familie oder Denunzierung bzw. Mobbing ihrer Tochter. Und noch ein paar mehr, ich kann ja nicht alles verraten.

Die Autorin erzählt in einem Interview mit der FAZ (s. unten), dass sie bei einem Besuch der Marschlande an sich schon von der Landschaft fasziniert war. Als sie dann auch noch auf den Abelke-Bleken-Ring und die Geschichte dahinter stieß, war für sie klar: Da muss ein Roman draus werden!

Und der ist ihr wirklich außerordentlich gut gelungen! Die einzelnen Kapitel sind abwechselnd der Jetzt- bzw. der historischen Ebene zugeordnet. Jarka Kubsova gelingt es es, diese beiden Ebenen hervorragend zu verbinden.

Ein fesselndes Buch! Ein erschütterndes Buch, das unter die Haut geht! Ein wichtiges Buch! 

Absolute Leseempfehlung!


Links

Ich bin auf dieses Buch durch mehrere Medienberichte aufmerksam geworden. Am ausführlichsten und am beeindruckendsten war für mich das sehr ausführliche Interview mit der Autorin in der FAZ. Der Podcast dauert zwar eine ganze Stunde, aber jede Minute ist es wert, gehört zu werden!

Ein guter Einstieg ist natürlich immer Wikipedia:

  • hier also noch einmal Abelke Bleken selbst
  • die Allerheiligenflut 1570, die so verheerende Schäden an der Nordseeküste angerichtet hat
  • die Historikerin Rita Bake, die im Buch unschwer als Ruth Grotjahn zu erkennen ist. Rita Bake ist Mitbegründerin des Vereins ...
  • Garten der Frauen: So heißen der Verein, als auch ein Bereich auf dem Ohlsdorfer Friedhof, der sich mit historisch bedeutsamen Frauen Hamburgs beschäftigt, die aber in der öffentlichen Wahrnehmung benachteiligt sind und untergehen. Begründung der Stadtverwaltung vor Gründung des Vereins: "Es gibt zu wenige Frauen, nach denen man Straßen benennen könnte"
    In diesem Garten der Frauen (hier zu finden) befindet sich auch ein Gedenkstein für Abelke Bleken.
    Wenn ich wieder einmal in Hamburg bin, muss ich dort unbedingt hin!
Rita Bake betreibt auch eine Datenbank, die sich mit historisch bedeutsamen Frauen Hamburgs beschäftigt. Hier ein Link, der bereits für die Suche nach Abelke Bleken vorbefüllt ist.

Ausgehend von diesen Links gibt es reichlich Material zur weiteren Vertiefung in die Materie.


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