Montag, 12. Dezember 2022

Dulce Maria Cardoso: Die Rückkehr ★★★★☆

Dulce Maria Cardoso: Die Rückkehr  ★★★★☆

Kein Cover verfügbar


Seit 1961 rumorte es in den afrikanischen Kolonien Portugals. Die Aufständischen konnten immer mehr Land zurückerobern. Die Kolonialmacht antwortete mit erbittertem Krieg, der sowohl menschlich als auch materiell unglaubliche Opfer forderte. In den letzten Jahren waren 80% der portugiesischen Soldaten in Afrika stationiert und der Krieg verschlang unbeschreibliche 60% des Wirtschaftsaufkommens. Zum Vergleich: Deutschland bemüht sich seit Jahren, die Verteidigungsausgaben auf 2% zu heben. Von Österreich reden wir an dieser Stelle lieber gar nicht.

60% sind für jedes Land Irrsinn. Aber für das verarmte und rückständige Portugal umso mehr. Diese Armut kam hauptsächlich daher, dass die Salazar- (und später Caetano-) -Diktatur ihre Bewohner bewusst von Bildung fern hielt und damit jeglichen Fortschritt und Innovation unmöglich machte. Gewünscht waren ungebildete, willfährige Untertanen. Falls das mit dem "willfährig" nicht so klappen sollte, gab es wie in jeder Diktatur noch Gefängnis und Folter. Einschränkung der Pressefreiheit war ebenfalls hilfreich.

Es war aber letztlich das Militär selbst, das 1974 diese Diktatur stürzte. Die menschliche und finanzielle Last war eben unerträglich und der Krieg in Afrika trotzdem nicht zu gewinnen.

In der Nacht des 25. April 1974 ertönte im Radio das Lied, das als Startsignal für die Revolution vereinbart war. Militär und Volk standen gleichermaßen dahinter, sodass dieser Umsturz praktisch unblutig (mit ganz wenigen Ausnahmen) über die Bühne ging. Er sollte später als Nelkenrevolution in die Geschichtsbücher eingehen.


Wir waren im Juni 2014 in Lissabon.
40 Jahre nach der Nelkenrevolution war die Stadt voll mit Wandmalereien ...

... und Plakaten, die an sie erinnerten.
Mehr dazu in meinem Reisebericht von damals.


Die Übergangsregierung begann sofort, das zentrale Versprechen umzusetzen: Einstellung des Krieges in Afrika und Entlassung von Mosambik und Angola in die Unabhängigkeit.

Für die portugiesischen Kolonialisten war das das Signal, in das "Mutterland" zurückzukehren – und das taten sie auch. Und so setzten sich innerhalb weniger Monate 500.000 Menschen in Bewegung, um auf ein völlig verarmtes Portugal mit 11 Millionen Einwohnern zu treffen.

Dulce Maria Cardoso (*1964), die Autorin dieses Buches, war selbst eine dieser Rückkehrerinnen. Ihre Eindrücke von damals hat sie hier verarbeitet; Eindrücke, die sie sowohl von Angola als auch nach ihrer Ankunft in Portugal mitgenommen hat.

Das ist ihr ganz ausgezeichnet gelungen! Ein sehr bewegendes und aufwühlendes Stück Zeitgeschichte, das da heraus gekommen ist!


Rui, der Ich-Erzähler, 15 Jahr alt, seine um ein Jahr ältere Schwester Maria und deren Eltern sitzen in Luanda auf gepackten Koffern. Es sind nur noch die allerletzten Handgriffe vor der Abreise zu erledigen: Vater möchte noch den Hund erschießen und das Haus anzünden. Die "Pretos", wie alle Portugiesen abschätzig die einheimischen Angolaner nennen, sollen das Haus jedenfalls nicht bekommen. Schlimm genug, dass sie die Häuser rundum schon in Besitz genommen haben; Häuser von Portugiesen, die bereits ins Mutterland abgereist waren.

Sie warten nur noch auf Onkel Ze, den Bruder der Mutter. Er ist als Soldat in Angola stationiert und soll die Familie zum Flughafen bringen. Aber der Onkel verspätet sich. Ein schlechtes Omen: Leute, die sich verspäten, kommen in diesen Zeiten üblicherweise gar nicht mehr.

Statt dessen hält vor dem Haus ein Geländewagen, voll mit Pretos. Sie suchen einen berüchtigen Portugiesen und haben den Vater im Verdacht, jener zu sein oder diesen zumindest zu kennen. Ein Wort gibt das andere, die Lage eskaliert. Der Vater wird auf den Wagen gezerrt und abgeführt.

Kurz darauf kommt Onkel Ze doch noch. Als er erfährt, was los war, treibt er die Familie zur Eile an. Jetzt und sofort haben sie mit ihm zum Flughafen zu fahren, auf den Vater können sie nicht mehr warten. Einfach zu gefährlich!

Im Mutterland Portugal angekommen, werden sie zunächst in einem Viersterne-Hotel in Estoril untergebracht – so wie viele andere Familien auch. Viele lebten ja bereits seit mehreren Generationen in Angola und haben in Portugal daher keine Verwandten mehr. Zunächst sind sie froh, überhaupt irgendwo untergekommen zu sein, aber mit den Wochen und Monaten mehren sich die Probleme. Selbst ein Viersterne-Hotel kann einem dann beim Hals heraushängen. Die Rückkehrer sind im verarmten Mutterland alles andere als willkommen: Die Kolonialherren lebten dort auf Kosten der Einheimischen in Saus und Braus und nun kommen sie plötzlich massenhaft zu uns nach Portugal. Dass die selbst dort alles aufgegeben haben, wird nicht zur Kenntnis genommen. Aus den Kleiderspenden werden sie mit viel zu großer und kratziger Bekleidung versorgt, sodass man einen Rückkehrer schon von Weitem als solchen erkennt.

Und auf den Vater warten sie vergeblich. 

Sie selbst haben jeder nur eine Tasche oder einen Rucksack aus Angola mitgebracht. Es gab aber sehr viele, die früher als unsere Familie die Übersiedlung antraten, und das meist per Schiff. Jene konnten wesentlich mehr in Kisten packen und mit nach Portugal nehmen. Nur: In den Notunterkünften war kein Platz für diese Kisten. Uns so lagen diese auf den Kais der Häfen – im Freien, kilometerweise und monatelang. Rui hat sich einer Gruppe angeschlossen, die diese Kisten in der Nacht bewacht, um zumindest irgendwas zu tun zu haben.

Zu Tausenden lagerten diese Kisten auf den Kais

Und dann steht er plötzlich da! Nach mehr als einem Jahr steht der Vater vor der Zimmertür des Hotels! Was er in der Zwischenzeit in Angola erlebt hatte, lässt sich anhand einer Narbe auf einem Handrücken nur erahnen. Als Rui eines Tages den mit Narben übersäten nacktem Oberkörper des Vaters sieht, wird ihm klar, was los war.

Aber sein Vater gibt nicht auf. Er möchte mit ein paar Partnern eine Betonfirma gründen; denn für ihn steht fest, dass in nächster Zeit vor allem gebaut wird – gebaut werden muss. Von Straßen, Fabriken bis zu Wohnungen; das rückständige Mutterland wird in den folgenden Jahren einfach bauen müssen. Gemeinsam gehen sie das unternehmerische Risiko ein, sie haben nichts zu verlieren, es kann nur besser werden.

Ein kleiner Anfang ist bereits gemacht: Die Familie übersiedelt in eine winzige Zwei-Zimmer-Wohnung.

* * *

Das Buch schildert sehr lebendig die Szenen sowohl in Angola als auch in Portugal. Man merkt ihm an, dass die Autorin das nicht bloß nacherzählt, sondern ganz offenbar selbst erlebt hat. Beeindruckend fand ich vor allem die Szenen in Portugal: Die Lage im Hotel und deren Bewohner, die alles verloren haben; die Kisten und Koffer am Kai (im Buch Container genannt, was ich am Anfang verwirrend fand, weil ich immer Transport-Container im Kopf hatte); die Behandlung der Rückkehrer als Menschen zweiter Klasse, ewiggestrige Kolonialherren; der Rassismus, den die Rückkehrer mitbrachten (selbst Rui hat den drauf); und die Beschreibung der Armut, die im Land herrschte. 

Der Roman ist ein großes Stück Zeitgeschichte. Ich hab ihn mit großem Interesse gelesen; und wie immer bei solchen Romanen hab ich nebenbei noch so manchen Artikel zu dieser Geschichte gelesen.

* * *

Links

Das Foto oben mit den Kisten am Kai ist ein screenshot der 3sat-Doku "Portugal lesen":

https://www.3sat.de/kultur/kulturdoku/portugal-lesen-100.html

 Der Abschnitt über die Nelkenrevolution und die Autorin beginnt etwa bei 8:20. Der Link hat nur einen großen Nachteil: Die Doku ist auf 3sat nur noch bis 19.3.2023 verfügbar!

Auf das Buch aufmerksam wurde ich eben durch diese Doku auf 3sat, sowie auf eine Rezension in der FAZ.










Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen