Samstag, 12. Februar 2022

Jón Kalman Stefánsson: Ástas Geschichte ★★★★☆

Jón Kalman Stefánsson: Ástas Geschichte  ★★★★☆


Cover: Piper

In seinen Romanen "Fische haben keine Beine" und "Etwas von der Größe des Universums" bezeichnet der Autor Aris Mutter als "das wilde Fohlen"; und meint damit eine selbstbewusste Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht und die in Island zur Zeit, in der diese Romane spielen, einfach außergewöhnlich und bis dato unbekannt waren.

In diesem Roman stellt Jón Kalman Stefánsson gleich zwei solche wilde Fohlen vor: Helga und Asta, Mutter und Tochter. Und wie er das sprachlich wieder hinbekommt ist schon ganz große Klasse!


Ich versuche erst gar nicht, den Inhalt zu beschreiben. Es kommen doch etliche Personen vor, die alle irgendwie mit der Handlung zu tun haben. Und vor allem wird die Geschichte nicht chronologisch erzählt, sondern man wechselt im Buch immer wieder Zeit, Ort und handelnde Personen. Es gibt zwar einen allwissenden Erzähler, der das Ganze zusammenhält. Über weite Strecken gibt es aber andere Erzähler, die die Geschichte aus ihrer Position beschreiben.

Man darf sich dadurch aber nicht allzu sehr beirren lassen; einfach weiterlesen, es klärt sich schon auf!

Statt dessen werde ich die allerwichtigsten Personen und ihr Handeln beschreiben. Fangen wir also mit Helga an.


Helga

Helga kommt Mitte der 1930er-Jahre zur Welt und ist im Alter von 19 mit Asta schwanger. Sie ist mit Sigvaldi zusammen und hat mit ihm bereits eine Tochter. Helga ist bildschön, viele vergleichen sie mit Elizabeth Taylor. Markus, ihr Vater, war einst ein gefeierter Sänger, begann aber später aus unbekannten Gründen plötzlich mit dem Suff und verlor so seine Stimme. Bei großen privaten Festen, die sein reicher Freund und Gönner Sigurdur finanziert, singt er aber noch, manchmal von seiner Tochter begleitet.

Helga ist aber auch das schon angesprochene wilde Fohlen. Ihr fällt die Decke auf den Kopf! Die beiden Kinder halten sie auf Trab, kaum hat sie die Wäsche gewaschen, wartet schon die nächste, kaum hat sie die Wohnung in Ordnung gebracht, bringen die Mädchen wieder alles durcheinander. Einfach sinnlose Arbeit – und keine Ansprache, sie kommt nicht aus dem Haus! Im Gegensatz zu Sigvaldi, der zur Arbeit geht und dort mit seinen Kumpels soziale Kontakte hat.

Als Asta sieben Monate alt ist, kommt Sigvaldi eines Tages von der Arbeit zurück und findet in der Wohnung eine fremde Frau vor, Asta sitzt auf ihrem Schoß, von Helga keine Spur. Sie ist zu ihrem Vater geflüchtet und hat nicht vor, zurückzukommen. Die fremde Frau nimmt Asta in Pflege, wo ihre ältere Schwester landet, erfahren wir nicht.

Ihr Vater verständigt auch Sigurdur (den reichen Freund); der reist Hals über Kopf mit Helga nach Norwegen. Er kommt nach einer Woche wieder zurück, sie nach sieben Monaten. Was sie in dieser Zeit dort gemacht hat, weiß nur sie. Aber in der Zwischenzeit kauft Sigurdur für sie eine Wohnung, die sie übrigens bis zu ihrem Tod behalten wird. Nachdem sie wieder in Reykjavik angekommen ist, verbringen sie und Sigurdur drei Tage in dieser Wohnung, ohne sie zu verlassen. Nach dem dritten Tag geht Sigurdur zu seiner Bank, behebt sein halbes Vermögen in bar, stopft die Scheine in den Kofferraum seines Geländewagens, fährt mit diesem ungebremst ins Meer und versinkt.

Helga ist zu diesem Zeitpunkt etwa 22 Jahre alt. Ab jetzt geht es nur noch bergab in Richtung Alkohol.


Asta

Asta, ca. 1955 geboren, wächst also, wie erwähnt, bei ihrer Ziehmutter auf und die beiden kommen super miteinander aus. Eines Tages aber bricht Asta einem Schulkollegen die Nase und wird daher von Staats wegen im Sommer auf einen einsamen Hof in den Westfjorden zur Besserung geschickt. Das zweite wilde Fohlen kündigt sich an.

Auf diesem wirklich einsamen Hof gefällt es ihr aber gar nicht so schlecht. Sie trifft dort auf Josef, der ebenfalls dorthin geschickt wurde, und freundet sich mit ihm an. Der Bauer und dessen Mutter sind schon ziemlich schrullig und es gäbe über diese Familie viel zu erzählen; aber das würde den Rahmen hier echt sprengen. Asta und Josef kommen später noch einmal in der Schule zusammen, danach trennen sich aber ihre Wege.

Im Alter von ca. 22-25 Jahren arbeitet Asta in der Redaktion einer isländischen Zeitung und lernt dort Gudjon kennen. Der ist bereits ein bekannter Schriftsteller und ist mit Linda verlobt. Der Roman, den er veröffentlicht hat, handelt übrigens von einem Seemann, der im Alter von fünf Jahren mit ansehen muss, wie sein Stiefvater seine Mutter im Bach ertränkt.

Gudjon belügt Linda und ihre Familie, nur um mit Asta eine Woche in der Einsamkeit der Westfjorde verbringen zu können. Als Asta kurz danach aber bei Gudjon wieder auftaucht, weil sie schwanger ist, verstößt er sie. Sein Argument: Sie war neben ihm mit noch so vielen anderen in einer Beziehung, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass er der Vater ist. Er wirft ihr an den Kopf, dass sie herzlos ist und prophezeit ihr, dass sie es mit ihrer Nymphomanie noch weit bringen wird (Tatsächlich verwendet er ein anderes Wort, das ich aber lieber nicht zitiere, sonst löscht mir Google diesen Post).

Asta bringt ihre Tochter Sesselja zur Welt, aber nur kurze Zeit später geht sie nach Wien, um dort Theaterwissenschaften zu studieren. Sesselja wächst bei Astas Vater Sigvaldi auf, der inzwischen mit seiner neuen norwegischen Partnerin Sigrid in Stavanger (Norwegen) lebt.

Asta leidet aber furchtbar unter der Trennung von ihrer Sesselja. Als dann auch noch Helga aus der Ausnüchterungszelle bei ihr in Wien anruft und ihr mitteilt, dass Astas ältere Schwester gestorben ist, bricht sie zusammen und unternimmt einen Selbstmordversuch. Im letzten Moment wird sie von ihren Vermietern gefunden und gerettet. Nach einem weiteren Studium in Prag übersiedelt sie nach Oslo, um so Sesselja näher zu sein.

Wenn Asta mit jedem was anfängt und dabei nicht davor zurückschreckt, Beziehungen zu zerstören, drängt sich bei mir bis zu einem gewissen Grad ein Vergleich mit Frank Wedekinds "Lulu" auf: Jung, schön, verführerisch, Venusfalle, keine Kostverächterin, zerstörend. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grad: Asta landet letztlich nicht wie Lulu oder Helga in der Gosse; ihr gelingt sogar eine Beziehung, die 30 Jahre halten sollte. Bis irgend etwas vorfällt, von dem wir nichts erfahren.


Der namenlose Autor

Irgendwann Mitte der 1980er-Jahre lernt Asta einen neuen Partner kennen, mit dem die Beziehung immerhin 30 Jahre hält. Sie haben auch eine gemeinsame Tochter, die aber ebenfalls anonym bleibt. 

Aus einem nicht genannten Grund ist aber diesmal er es, der die Flucht ergreift – ausgerechnet in die einsamen Westfjorde. Das weiß Asta aber nicht und so gehen die zahlreichen Briefe, die sie ihm, den sie immer noch liebt, schreibt, ins Leere und bleiben unbeantwortet. Im Laufe der Zeit stellt sich heraus, dass dieser namenlose Partner der Autor dieses Buches ist!


Sigvaldi

Astas Vater ist zehn Jahre älter als Helga. Nach der Trennung der beiden übersiedelt Sigvaldi mit seiner neuen Partnerin nach Stavanger. Dort betreibt er mit seinem Freund Gunnar einen Maler- und Anstreicherbetrieb. Im Winter, wenn nicht so viel zu tun ist, fährt er zur See auf Fischfang, um das Gehalt etwas aufzubessern. 

Ca. 1992 fällt er während der Arbeit von der Leiter und bleibt schwer verletzt auf dem harten Gehsteig liegen. Eine ältere Frau findet ihn und kümmert sich um ihn. Dieser Frau erzählt er seine ganze Lebensgeschichte, allerdings auf isländisch. Die Norwegerin versteht nur einzelne Brocken.

Ist das nicht … er fühlt Tropfen auf seinem Gesicht. Als würde die Frau weinen. Steht es so schlecht um mich, denkt Sigvaldi und schaut auf …

* * * * *

Obwohl ich hier schon sehr viel verraten habe, bleibt immer noch genug zum Entdecken und Lesen übrig! Und ich kann nur sagen: Es lohnt sich, auf diese Entdeckungsreise zu gehen! Dem Autor gelingt es wie immer, mit sehr einfachen und recht oft sehr originellen Sätzen die Sache auf den Punkt zu bringen.

Vollkommenes Glück gibt es nirgends, außer vielleicht im Himmel, und von Reykjavíks Straßen ist es ein weiter Weg dorthin. 
Meine Ziehmutter besaß ein Buch, das Wissenschaft für das einfache Volk oder so ähnlich hieß, und das hatte sie von vorne bis hinten gelesen. Nordlicht, sagte sie und erklärte es so einfach, dass ich es noch heute weiß, bald sechzig Jahre später, Nordlicht entsteht, wenn Elektronen von der Sonne auf Partikel in der Atmosphäre treffen. Dann setzte sie hinzu: Dadurch sind sie aber nicht minder schön.

Oder wenn er den Überlebenskampf auf den einsamen Einzelhöfen Islands beschreibt; urbrutal, aber bis zur Mitte des 20. Jhdts. war das wohl wirklich so:

Die Geschichte Islands besteht in erster Linie aus einer Beschreibung des ewigen Kampfes, Heu rechtzeitig vor dem Regen zu bergen, es trocken und in die Scheune zu bekommen. Das Leben von Mensch und Vieh hing davon ab, wie gut das gelang. Eine magere Heuernte führte im Spätwinter oder im zeitigen Frühjahr fast unweigerlich zum Hungertod. Erst beim Vieh, wenig später auch unter den Menschen. Unser Leben und unser Überleben auf dieser Insel, deren Umrisse einem toten Tier ähneln, wurde immer dadurch bestimmt, wie viel Heu es gab. Vielleicht auch noch von ein paar Fischen und einer Handvoll Gedichte. Aber zähle im Herbst die Halme in der Scheune, und du weißt, ob deine Kinder den Winter überleben werden.


Im Buch wird an einigen Stellen der überbordende Tourismus Islands des 21. Jhdts. angesprochen (die entsprechende Website dazu: strandir.is). Der Autor ist der Meinung, dass die Touristen ausgenommen werden wie die goldenen Weihnachtsgänse:

Wir verkaufen ihnen die Dunkelheit, das Meer und den Wind, bieten ihnen die Möglichkeit, sich in steifes, übel riechendes Ölzeug zu zwängen, in strömendem Regen langweiliges Essen zu sich zu nehmen, und nennen das den Reiz des Exotischen, hat der Nachbar zu mir gesagt und gelacht.
Die Touristen sind in der Mehrheit, will ich damit sagen. Dahin geht die Entwicklung, mein Lieber, und man hält sie nicht auf, nicht einmal, wenn man eine Schrotflinte hat und bereit ist, sie auch einzusetzen. Mir ist es vollkommen egal, ob Gott oder der Teufel die Touristen erfunden hat, denn sie pumpen munter so viel Geld in unsere Wirtschaft, dass die Konjunktur brummt. Man ist so sehr damit beschäftigt, Geld zu zählen, dass einem kaum noch Zeit zum Arbeiten bleibt!

Ich hab aber auch ein paar Kritikpunkte.

Normalerweise hab ich keine Probleme mit Romanen, die nicht chronologisch erzählt werden. Hier im Prinzip auch nicht; aber es ist irgendwie unbefriedigend, wenn einem die zeitliche Einordnung so gar nicht gelingen mag. Ich hab oben bei Zeitangaben immer wieder "circa" schreiben müssen, weil es genauer einfach nicht geht. Es gibt auch kaum Altersangaben, was bei ständig wechselnden Orten und Personen etwas mühsam ist. Man ist ständig am Rechnen, in welchem Zeitraum die Handlung jetzt spielt und wie alt die Personen darin sind.

Wir erfahren auch nichts Näheres über den namenlosen Autor. Schon in den beiden ganz am Anfang genannten Romanen bleibt der Ich-Erzähler anonym; war ok. Aber warum die Beziehung mit Asta auseinander ging, hätte mich der Vollständigkeit halber schon interessiert. Auch die gemeinsame Tochter bleibt im Dunkel.

Aber nehmt alles nur in allem: Wieder einmal ein großartiges Buch meines isländischen Lieblingsautors! Ich bin grade noch einmal die Liste seiner auf deutsch verfügbaren Werke durchgegangen: Ich glaube, es fehlen mir nur noch drei.

 

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