Donnerstag, 27. Januar 2022

Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare ★★★★☆

Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare  ★★★★☆


Cover: Suhrkamp

Wo soll ich eigentlich anfangen? Das Buch ist so voller Inhalt!

Naja, vielleicht mit dem Titel. Der ist vollkommen nichtssagend und irreführend; gleiches gilt für das Coverfoto. Wenn man nur den Titel des Buches kennt, kommt man nie im Leben drauf, worum es darin geht.

Der Grazer Autor Clemens J. Setz (Hut ab! Büchnerpreisträger 2021, und das im zarten Alter von 39!) behandelt darin Plansprachen; also keine gewachsenen Sprachen, sondern solche, die von Menschen erfunden, also geplant, wurden. Und da gibt es gar nicht so wenige! Einige bekanntere Beispiele wären etwa Volapük und Esperanto. Clemens J. Setz hat 6 (!) Jahre Arbeit in dieses Buch investiert! Herausgekommen ist ein wirklich umfassendes, sehr liebevolles und stellenweise witziges Werk zu diesem Thema! Neben Plansprachen widmet der sich aber auch noch anderen "Sprachen" wie etwa Glossolalie oder Grammelot. Mehr dazu folgt gleich; zu Gebärdensprache, Grammelot und Glossolalie hab ich auch Videos eingebettet!


Bliss-Symbole

Das Buch beginnt aber gar nicht mit einer gesprochenen Plansprache, sondern mit einer geschriebenen bzw. gezeichneten, nämlich mit den Bliss-Symbolen. Dieser Sprache widmet er ein relativ langes und spannendes Kapitel; es ist jedenfalls so fesselnd geschrieben, dass mich der Autor damit sofort an das Buch gebunden hat!

Die Bliss-Symbole haben eine recht interessante Entstehungsgeschichte. Karl Kasiel Blitz wurde auf seiner Odyssee, die ihm das NS-Regime aufgezwungen hatte, auch nach England verschlagen. Sein Name war dort zu dieser Zeit aber mehr als unglücklich, denn die Briten verbanden mit Blitz in erster Linie "Blitzkrieg". Also nannte er sich fortan Charles Bliss, und unter diesem Namen wurde er dann auch berühmt.

Aber die Reise sollte noch weitergehen, letztlich bis Shanghai. Sein dortiger Chinesischlehrer machte ihn eines Tages darauf aufmerksam, dass Chinesen im Westen durchaus Zeitungen aus dem Osten lesen können, obwohl sie ganz andere Sprachen bzw. Dialekte sprechen. Möglich wird das durch die chinesischen Schriftzeichen, die sowohl im Westen als auch im Osten die gleiche Bedeutung haben – auch wenn sie vielleicht unterschiedlich ausgesprochen werden.

Dieser Hinweis ließ bei Charles Bliss einen Groschen fallen. Fortan machte er sich daran, eine eigene Zeichensprache zu entwickeln, die einfacher gestaltet sein sollte als die chinesischen Zeichen, und die daher weltweit zum Einsatz kommen können. Er dokumentierte diese neue Sprache – und damit fiel sie auch schon wieder in Vergessenheit.

Jahrzehnte später (1971) hatte eine Pädagogin in einem kanadischen Heim für schwerbehinderte Kinder die Idee, sie doch mit irgendeiner Art von Symbolen kommunizieren zu lassen. Wenn manche vielleicht nicht sprechen können, aber auf gezeichnete Symbole zeigen können sie. Sie machte sich auf die Suche nach etwas schon Vorhandenem und stieß auf die Bliss-Symbole. Das war der Durchbruch. Diese Sprache erwies sich als dermaßen erfolgreich, dass sie inzwischen weltweit eingesetzt wird. Natürlich waren für diese Zwecke einige Adaptierungen notwendig.

Aber da gerieten die Kanadier an den Falschen. Bliss betrachtete sich als "Papst" und somit oberste Autorität über seine Symbole. Es dauerte Jahre, bis dieser verbissene Streit mit dem kanadischen Heim endlich beigelegt werden konnte.


Volapük

Eine weitere Plansprache, die einen Papst hat (Cifal, bis heute!) ist Volapük. Erfunden hat sie 1890 der Pfarrer Johann Martin Schleyer (übrigens ein Großonkel des 1977 von der RAF ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer). Für diese Sprache werden immer noch Kongresse veranstaltet, aber durch die Starre, die sich aus dem Papst-System ergibt, ist die Sprache halt für Neuerungen und vor allem neue Begriffe nicht sehr zugänglich. Ihre Bedeutung ist heute marginal.


Esperanto

Ein ganz anderes Konzept verfolgt da Esperanto! Clemens J. Setz vergleicht das mit dem heute gängigen "open source": Jemand erfindet etwas, veröffentlicht es und lädt andere (die Community) ein, diese neue Erfindung zu verbessern und weiterzuentwickeln. Auf Kongressen werden die Vorschläge diskutiert und ein neuer, aktuellerer Standard der Sprache wird verabschiedet. 

1887 veröffentlichte also der polnische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof den Entwurf seiner Entwicklung Esperanto. (Genau genommen gab es Polen damals als Staat gar nicht, sondern seine Geburtsstadt Białystok gehörte damals zum Russischen Zarenreich.)

Dieses Konzept des "open source" erwies sich als wesentlich erfolgreicher als das starre Papst-System von Bliss oder Volapük. Esperanto hat heute noch viele Fans weltweit, es gibt sogar Esperanto-Muttersprachler und vor allem eine umfangreiche Literatur: Von Romanen bis zur Lyrik!

Apropos Lyrik. Gerade das umfangreiche Esperanto-Kapitel ist sehr lyrik-lastig. Seitenweise Gedichte auf Esperanto sowie deren Übersetzungen ins Deutsche. Da ich persönlich mit Lyrik noch nie sehr viel anzufangen wusste, hab ich hier große Teile übersprungen, ohne Wesentliches versäumt zu haben.

Die Reise des blinden russischen Dichters, Revolutionärs und Weltreisenden Wassili Jeroschenkos (Setz verwendet übrigens die Schreibweise "Eroschenko") bildet die Rahmenhandlung des Esperanto-Kapitels. Jeroschenko erblindete als Jugendlicher und interessierte sich von da an für Esperanto. Er war tief in der Community verankert, sodass er allein eine Reise per Bahn von Moskau bis London unternehmen konnte; auf den Umsteigebahnhöfen wurde er jeweils von Esperanto-Freunden in Empfang genommen und in den Anschlusszug gesetzt.

In London hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich mit dem alten Revoluzzer Pjotr Kropotkin zu treffen, denn er selbst entwickelte sich gerade ebenfalls zu einem solchen. Seine weiteren Reisen brachten ihn vor allem nach Japan und China, wo er sich jeweils ein paar Jahre aufhalten konnte. Aber nach dieser Zeit wurde er von den jeweiligen Geheimdiensten immer wieder in das benachbarte Ausland hinausbegleitet. Zu gefährlich, dieser junge Mann mit seinen aufrührerischen Ideen.

Auch in der vor kurzem entstandenen Sowjetunion konnte man so einen wie ihn nicht wirklich brauchen. Revolutionäre waren die Kommunisten ja schließlich selber. In den 1930er-Jahren wurde der Boden dann endgültig zu heiß für ihn. Stalin waren die Esperantisten ein Dorn im Auge, weil sie für ihn zu weltoffen waren und mit ausländischen Konterrevolutionären in Kontakt standen. Diese Zeit  des Großen Terrors überstand er in Turkmenistan, kehrte später aber wieder in seinen Geburtsort zurück, wo er 1952 auch starb.


Esperanto und Bahai

In einem Nebensatz erwähnt Clemens J. Setz die enge Verbindung zwischen Esperanto und der Religionsgemeinschaft der Bahai, führt diesen Zusammenhang aber leider nicht näher aus. Und tatsächlich hat sich Abdu'l-Bahá, der Sohn des Religionsgründers für Esperanto stark gemacht, weil er auf der Suche nach einer weltumspannenden und friedensstiftenden Sprache war. Eine weitere starke Verbindung gab es in der Person der Lidia Zamenhof, der Tochter des Esperanto-Erfinders. Sie lernte 1927 auf dem Genfer Welt-Esperanto-Kongress diese Religion kennen und übernahm sie wenig später auch. Und außerdem gibt es seit 1973 die Bahai-Esperanto-Liga, die die Zusammenarbeit weiter vertiefen soll.


Ich hab jetzt wirklich nur die allergrößten Kapitel und Sprachen behandelt. Im Buch selbst werden noch viele viele weitere Konzepte vorgestellt. Hier nur einige Beispiele, die Liste ist bei weitem unvollständig: aUI, Talossa, Gebärdensprache, die ans Irisch/Gälisch/Walisische angelehnte Kunstsprache des H.C.Artmann, ganze Sprachfamilie zu Herr der Ringe, Klingonisch, Glossolalie, Grammelot, und viele, viele mehr.

* * *

Ich fand das Buch über weite Strecken super-interessant, sehr gründlich recherchiert und witzig geschrieben. Die langen Lyrik-Strecken – geschenkt. Gegen Ende des Buches schweift er dann schon ein bisschen sehr weit ab, findet aber wieder in die Spur zurück. Insgesamt war das eine sehr gelungene Zusammenfassung einerseits zum Thema Sprachen insgesamt, andererseits zum Thema Plansprachen im Besonderen. Locker-flockig und witzig geschrieben, immer wieder mit persönlichen Erlebnissen garniert.


So, nach so viel Text noch ein paar Videos zur Erholung!


Gebärdensprache

Am 10. September 2013 fand in Soweto die Trauerfeier für Nelson Mandela statt. Die Creme de la Creme der internationalen Politik gab sich hier vor vollem Stadion ein Stelldichein. Sehr vorbildlich, wurde auch ein Gebärdensprachler engagiert, der vier Stunden lang die Ansprachen der hohen Herrschaften übersetzte. Allerdings stellte sich gleich kurz nach Beginn heraus, dass der gute Mann nur Nonsens übersetzte! Und keiner holte ihn in diesen vier Stunden von der Bühne! Später wurde bekannt, dass er wegen Schizophrenie bereits einige Zeit in der Psychiatrie verbrachte. Und ausgerechnet an diesem Tag erschienen ihm Engel und er verfiel in Panik. Was sollte er machen? Angesichts der schwerbewaffneten Security rund um ihn konnte er nur gute Miene zum bösen Spiel machen und einfach seine Arbeit fortsetzen.

In diesem Video wird diese Episode sehr schön zusammengefasst und auch erklärt, was er denn übersetzt hat!



Grammelot

Grammelot ist eine Art Spielsprache, die lautmalerisch versucht, eine andere Sprache zu imitieren, ohne dabei wirklich Wörter der imitierten Sprache zu verwenden. Grammelot kommt ursprünglich aus der italienischen Commedia dell'arte und wurde vom italienischen Bühnendichter Dario Fo wiederentdeckt.

Klingt sehr abstrakt, aber die meisten von uns kennen das. Hier zwei recht bekannte Beispiele: La Linea und natürlich Charlie Chaplin als der Große Diktator!


Die Grammelot-Rede beginnt beim Zeitstempel 1:05


Glossolalie, Kindergebrabbel

Trifft vielleicht auf Glossolalie nicht zu 100% zu. Aber es wäre einfach zu schade, auf dieses Video zu verzichten. Diese beiden Knirpse haben seinerzeit (2011) eine gewisse Berühmtheit erlangt und sind einfach großartig! Viel Spaß!



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Zum Schluss noch ein Hinweis auf den Titel des Buches. 1925 schrieb Rainer Maria Rilke an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz: "Wir sind die Bienen des Unsichtbaren". Die Bienen tragen aus Quellen zusammen, die sonst niemand sehen kann. Naja.






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