Dienstag, 11. Januar 2022

Ismail Kadare: Geboren aus Stein ★★★★☆

Ismail Kadare: Geboren aus Stein  ★★★★☆


Cover: Fischer

Innerhalb kürzester Zeit hab ich jetzt drei verschiedene, mir bis dahin unbekannte, Kulturkreise kennengelernt. Nach Kenia und kanadischen First Nations nun also Albanien. Ist von uns nicht gar so weit entfernt, dennoch völlig unbekannt. Bei uns gilt es als das Land der wilden Skipetaren, bei denen Familienclans seit Jahrhunderten in Blutfehde liegen und bei denen Frauen eine männliche Identität annehmen, um geschäftsfähig oder Familienoberhaupt sein zu können.

Höchste Zeit also, etwas Licht ins Dunkel zu bringen, und das möglichst durch einen Einheimischen. Ich hab keine Ahnung mehr wie, aber irgendwie bin ich dann doch auf Ismail Kadare gestoßen. Geboren 1936 hat er inzwischen zahlreiche Romane veröffentlicht, für die er auch schon vielfach ausgezeichnet wurde. In mehr als 30 Sprachen übersetzt gilt er seit Jahren als ewiger Anwärter auf den Literaturnobelpreis.

All das wusste ich bis vor wenigen Tagen noch nicht. Aber besser spät als nie. Denn mit diesen autobiografischen Schriften gelingt es ihm ganz ausgezeichnet und auf humorvolle Weise, uns die albanische Seele näher zu bringen!


Der Einstieg fiel mir nicht ganz leicht, weil gleich zu Beginn relativ viele Personen ins Spiel kommen, die noch dazu einmal als Oheim oder Onkel bzw. Tante oder Muhme bezeichnet werden. Der Personenkreis wird aber danach nicht mehr viel größer und schön langsam werden die Konturen der Handelnden klarer. Die ersten albanischen Klischees (Jahrhunderte alte Streitereien) tauchen bereits auf, ebenso die politischen Umbrüche.

In den ersten paar Geschichten ist der Autor etwa 12 Jahre alt, wir befinden uns zeitlich also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (1948). Die Kommunisten sind drauf und dran, die Macht zu übernehmen, sie sind aber noch im Untergrund. Der Riss geht quer durch die Familien, auch beim Autor. Der Großvater als alter Großgrundbesitzer einerseits, andererseits sein Sohn, der bereits Mitglied bei der Partei ist.

Kurze Zeit später kommen sie aber tatsächlich an die Macht und dabei bleibt kein Stein auf dem anderen. In der Schule werden Lehrer plötzlich durch andere ersetzt; während des Abendessens hört man Klopfen an Türen in der Nachbarschaft, die ganze Familie sitzt starr und stumm um den Tisch.

Die Stimmung beim Abendessen kam mir gedrückter vor als sonst. Es wurde nur wenig geredet, und dazwischen gab es lange Pausen, die noch länger wurden, als man hörte, wie in der Nachbarschaft an Türen geklopft wurde. Das ist bei den Shtinos, sagte Mutter. Nach einer Weile fuhr sie fort: Und jetzt sind sie bei den Mizinis! Keiner sprach das Wort »Verhaftung« aus, aber allen ging es im Kopf herum, das war klar.

Es kommt aber doch noch zu einer Verhaftung in der Familie – nämlich der Autor selbst sowie sein bester Freund Ilir. Was müssen die beiden aber auch aus alten Bleilettern, die sie von einem dritten im Bunde bekommen haben, 5-Lek-Münzen fälschen! Sie werden aus der Schulklasse heraus verhaftet und verbringen zwei Tage im Gefängnis. Danach werden sie entlassen, weil sie als 12-Jährige noch nicht strafmündig sind.

Etwas später als 15-Jährige werden sie von einem älteren jugendlichen Besucher aus der Hauptstadt zu einer Vergewaltigung angestiftet. Nach dem Kino wollen die drei die gleichaltrige Viola "packen". Tatsächlich greifen sie ihr unter den Rock. Aber außer dass sie sich gegenseitig zerkratzen passiert dem Mädchen glücklicherweise nichts. Sie schlägt kurz um sich, reißt sich los aber nach ein paar Schritten ist allen klar, dass die drei Blödmänner sie nicht weiter verfolgen werden. Physisch ist also nichts weiter passiert – aber psychisch. Die drei leiden noch jahrelang unter diesem Ereignis; wie es Viola danach erging, erfahren wir nicht. Sie verlieren sich aus den Augen, bis Jahre später einer der drei mit Viola gemeinsam in einer Kommission zur Renovierung der Stadt sitzt. Ein kurzer Briefwechsel zwischen Ismail und Viola verscheucht letztlich dieses Gespenst, das sie jahrelang verfolgte.

Daneben gibt es noch zahlreiche kleinere Episoden, bei denen schön langsam das literarische Talent des Autor behandelt wird.

Die beste und aufschlussreichste Geschichte (Roman) ist aber die letzte in diesem Sammelband, genannt "Die Puppe". Gemeint ist damit seine Mutter und er widmet ihr mit diesem Roman ein wirklich sehr einfühlsam geschriebenes Porträt. 

Sie wird als 17-Jährige in das Haus der Kadars verheiratet. Sie selbst ist nicht die Allerhellste (das weiß sie auch), muss aber dort mit einer hochgebildeten Schwiegermutter zurecht kommen. Sie ist vollkommen auf sich allein gestellt, denn eine zweite Schwiegertochter als Verstärkung wird in dieses Riesenhaus nicht einziehen – ihr Ehemann ist das einzige männliche Wesen dort.

Die Szenen, die sich vor und während der Hochzeit und kurz danach abspielen, sind wirklich exzellent beschrieben. Da trifft eine schwerreiche Familie auf eine, die zwar eines der ältesten und größten Häuser in Gjirokastra besitzt, aber ansonsten von Reichtum weit entfernt ist. Das hält sie aber nicht davon ab, die Nase hoch zu halten.

So eine Hochzeit verlangt selbstverständlich Sondierungsgespräche und Unterhändler. Eine Woche nach der Hochzeit kommt die jungvermählte Frau noch einmal in ihr Elternhaus zum sogenannten "Mädchenbesuch". Da dieser Besuch aber ein paar Tage dauert und sie daher in dem nun "fremden" Elternhaus übernachten muss, wird sie von zwei Anstandsdamen begleitet. Zweck dieses Mädchenbesuches ist natürlich nichts anderes, als die junge Frau über die Verhältnisse im anderen Haus nach Strich und Faden auszufragen. Das weiß aber natürlich auch die Schwiegermutter; daher wird die junge Schwiegertochter nur mit dem Allernotwendigsten gefüttert, damit sie nicht zu viel ausplaudern kann. Und so weiter.

Ich hab mir bei diesem Buch so viele Stellen markiert wie schon lange nicht. Ich könnte noch seitenweise weiterschreiben, so ergiebig war es. Aber ich kann ja hier nicht alles verraten! 

Das Haus der Kadares wurde übrigens renoviert und ist heute ein Museum. Auf Google Maps sind übrigens noch zahlreiche weitere Fotos zu sehen.

Das Buch war so mitreißend, dass ich am liebsten gleich nächste Woche nach Albanien reisen möchte. Vielleicht schaffen wir es ja nach Corona (ja, da ist es wieder)!

* * * * *

PS: Nachdem ich das Buch durch hatte und die Personen nun besser kannte, las ich mir die erste Geschichte gleich noch einmal durch. Diesmal war dann alles klar und ich konnte die Feinheiten genießen, die mir beim ersten Mal entgangen waren.

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