Freitag, 31. Dezember 2021

Ngũgĩ wa Thiong’o: Träume in Zeiten des Krieges. Eine Kindheit ★★★★☆

Ngũgĩ wa Thiong’o: Träume in Zeiten des Krieges.  ★★★★☆


Cover: Fischer


Ngũgĩ wa Thiong’o (besser und ausführlicher ist der englische Artikel) ist seit Jahren einer der ewigen Anwärter auf den Literaturnobelpreis, wurde bis jetzt aber leider übersehen. Bob Dylan – äh, wer war eigentlich heuer? – war aber anscheinend wichtiger. Naja, meine persönliche Sicht halt.

Jedenfalls steht sein Roman "Herr der Krähen" schon lange auf meiner Liste. Aber ehrlich gesagt, einen Schmöker von beinahe 1000 Seiten für einen mir bis jetzt unbekannten Autor wollte ich auch nicht  riskieren. Also hab ich mich nach anderen Werken umgesehen und bin bei diesem Buch hängen geblieben.

Der Autor, 1938 in Kenia geboren, hat es geschafft, sich aus einfachsten Verhältnissen herauszuwurschteln und eine eindrucksvolle Karriere als Akademiker hinzulegen! Der Weg bis dorthin war alles andere als einfach und wurde vor allem via Bildung geebnet.

Auf diesem Weg lagen aber zahlreiche Steine; etwa alte Traditionen, Leben in einer britischen Kolonie, Befreiungskämpfe, Unabhängigkeit und gleich darauf Abgleiten in eine Autokratie, verbunden mit Gefängnisaufenthalt und Exil.

Das Buch beschränkt sich auf seine frühe Kindheit bis zur mehrtägigen Aufnahmsprüfung in eine höhere Schule. Besonders interessant fand ich aber die "Begleitmusik" dieser Zeit. Die Lebensumstände einer mir völlig unbekannten Gesellschaft werden hier wirklich sehr eindrucksvoll beschrieben!


Das beginnt mit der Familie. Der Autor wird in eine polygame Gesellschaft hineingeboren: Er ist das fünfte Kind (von sechs) der dritten Frau (von insgesamt vier) seines Vaters; der Vater hat insgesamt 24 Kinder. Er lebt allein in seiner Hütte, die Hütten seiner Frauen und deren Kinder sind im Halbkreis um seine herum aufgebaut. Allein schon dieses Gefüge in den Teilfamilien und untereinander ist für unsere Verhältnisse doch sehr exotisch. 

Ngũgĩ wa Thiong’o beschreibt recht schön, wie sich der Vater und seine Frauen kennengelernt haben. Die Bräute hatten natürlich keine freie Wahl bei ihrem Zukünftigen, aber doch zumindest ein gewisses Mitspracherecht. Die dritte zum Beispiel hat ihn regelrecht Prüfungen betreffend seiner Arbeitsleistung und Gewissenhaftigkeit unterzogen.

Ebenfalls sehr interessant und gut beschrieben ist der Aufstieg und Fall seines Vaters. Zunächst war er ein erfolgreicher Viehzüchter und war allseits hoch angesehen. Aber erste Probleme gab es, als er neues Land erwarb und diesen Kauf vor Zeugen samt traditionellem Tausch von Ziegen und alles, was sonst noch alles dazugehörte, besiegelte. Der Verkäufer war allerdings ein Schlitzohr und verkaufte dasselbe Land noch einmal, diesmal aber mit schriftlichem Vertrag. Beide Käufer trafen sich vor Gericht – einem der britischen Kolonialmacht, das der Schriftlichkeit mehr vertraute als den Traditionen. Das Land war für seinen Vater also verloren. Glücklicherweise sprang einer seiner Schwiegerväter ein und überließ ihm welches zur Nutzung.

Schlimmer war aber später eine Seuche, die den Viehbestand dahinraffte. Der Vater war ruiniert und glitt in den Alkoholismus ab. Damit verbunden gab es massive häusliche Gewalt, sodass die Frau (die Mutter des Autors) mit ihren Kindern zu deren Eltern zog. Der Autor war aus seinem gewohnten Familienverband also herausgerissen. Welche Auswirkungen das auf seinen Stand in der Gesellschaft hatte, ist ebenso wirklich lesenswert wiedergegeben.

Die Politik spielte natürliche ebenfalls eine große Rolle. In den 1950er-Jahren begann der Mau-Mau-Aufstand, der als Ziel die Unabhängigkeit Kenias hatte. Die Kenianer sahen, was die Inder vor kurzem geschafft hatten, und wollten das auch für sich erreichen. Allerdings hatte Mau-Mau nicht vor, das auf gewaltfreiem Weg wie Ghandi durchzusetzen, sondern per Guerilla-Krieg. Der Riss zwischen Briten-Getreuen und Partisanen ging quer durch die Gesellschaft und sogar Familien. Der älteste Bruder des Autors war einer der Partisanen; eines Tages wurde dieser auf dem Markt verhaftet, es gelang ihm aber, von der Ladefläche des Transporters zu springen und zu entkommen. Das ganze Dorf wusste, wer das war; das machte das Leben des jungen Ngũgĩ nicht gerade einfacher.

Trotz allem wurde er aber doch für die höhere Schule vorgeschlagen. Nach einer mehrtägigen Selektionsprüfung wurde er in die beste dieser Schulen aufgenommen. Etwas, was nur 5% der einheimischen Kandidaten gelang. Er war der Held der ganzen Großfamilie!

Mit der Fahrt in das Internat dieser Schule endet das Buch. Sie war nicht ohne Hürden, weil die Briten inzwischen die Regeln für die Reisefreiheiten bzw. Reiseunfreiheiten geändert hatten, wovon der junge Mann nichts wusste. Letztlich fand sich aber doch noch ein Weg, sodass es zumindest für diese Episode ein Happy End gab.

* * * * *

Ansonsten gab es nicht allzu viele Happy Ends im späteren Leben. Kaum war Kenia Anfang der 1960er-Jahre unabhängig, zogen Jomo Kenyatta und Daniel arap Moi ein autokratisches Regime auf mit allem, was so dazu gehört. Unter anderem eben auch Gesinnungsterror.

Der Autor schrieb ein Theaterstück, das nicht genehm war, worauf er gleich einmal für ein Jahr im Gefängnis landete. In dieser Zeit gelang es ihm, einen Roman (Der gekreuzigte Teufel) auf Toilettenpapier zu schreiben. Kurz vor Fertigstellung wurde er ihm abgenommen, die neue Gefängnisleitung gab ihn ihm dann wieder zurück. Amnesty International ist es letztlich zu verdanken, dass er freigelassen wurde und ins Exil gehen konnte! Exil ist niemals lustig, aber es ermöglichte ihm immerhin den weiteren Weg seiner akademischen Laufbahn. In einem Interview geht er auf all das noch einmal ein.

Allein schon wegen dieses ungewöhnlichen Lebenslaufes lohnt es sich für mich, weitere seiner Bücher auf die Liste zu nehmen. Verbunden mit seinem lebendigen Schreibstil freue ich mich schon auf interessante Stunden, die ich mit seinen Büchern verbringen werde.


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