Freitag, 31. Dezember 2021

Joshua Whitehead: Jonny Appleseed ★★★★☆

Joshua Whitehead: Jonny Appleseed  ★★★★☆


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Joshua Whitehead (hier ein Link zu seiner eigenen Homepage) ist wie der Protagonist seines Romans ein NDN. Jonny Appleseed, so dessen Name, wusste bereits im Alter von acht Jahren, dass er ein Two-Spirit und schwul war. Das Leben im Reservat der Peguis (treaty one-Gebiet) wurde ihm unmöglich, daher zog er vor einiger Zeit in den Norden der Provinzhauptstadt Winnipeg (Provinz Manitoba). Dort hält er sich als Stricher so recht und schlecht über Wasser, aber die Lebenssituation ist insgesamt mehr als prekär.

Allen, denen die oben genannten Begriffe so gar nichts sagen, geht es so wie mir. Aber im Laufe der Zeit wächst man in diese Sprache und Begrifflichkeiten hinein.


Einige Ausdrücke sind in einem sehr schmalen Anhang des Buches beschrieben, aber weitaus zu wenige; und wenn sie beschrieben sind, dann zu dürftig. Hier hätte ich mir vom Verlag wesentlich mehr Unterstützung gewünscht!

NDN ist die gebräuchliche Schreibweise für "Indian", die die Mitglieder der "First Nations" selbst für sich verwenden. "First Nations" wiederum ist die Bezeichnung, die die kanadischen Nicht-NDNs für die NDNs verwenden.

Beginnend mit 1875 hat die britische Kolonialverwaltung mit den First Nations Verträge abgeschlossen, die im Wesentlichen die Flächen der Reservate beschreiben sowie die Kompensationen, die die NDNs für die Überlassung des restlichen Landes bekommen.

Der Stamm (in Kanada "Band" bezeichnet) der Peguis war der erste, mit dem ein solcher Vertrag geschlossen wurde. Er war jedenfalls Muster und Vorlage für 10 weitere solche Verträge, sodass diese insgesamt "nummerierte Verträge" (numbered treaties) genannt werden – und bis heute gültig sind! Auf der Homepage der Peguis ist der first treaty nachzulesen, ebenso die immer noch offenen und strittigen Punkte und Kontroversen dazu.

Was ein Stricher ist, dürfte allgemein bekannt sein.

Schwierig wird es dann beim Two-Spirit. Das ist ein Mensch (und das kann per Definition nur ein NDN sein), der in sich sowohl männliche als auch weibliche Seelenelemente vereint. Klingt ein wenig schwammig, aber genauer kann und will hier gar nicht werden, weil selbst in der eigenen Community offenbar heftig darüber diskutiert wird. [Hier eine recht gute Seite mit ein paar Fotos]

Wenn diese Begriffe, die im Buch ständig präsent sind, einmal halbwegs geklärt sind, kann ich mich dem eigentlichen Inhalt zuwenden.

Und da gibt es einerseits recht wenig zu berichten. Jonny ist also aus dem Reservat ausgezogen und lebt so vor sich hin. Plötzlich erreicht ihn die Mitteilung seiner Mutter, dass er dringend zurückkommen soll, denn sein Stiefvater ist gestorben. Das Geld für die vierstündige Taxifahrt hat er aber im Moment nicht, also muss er seine Arbeit intensivieren. Die Totenwache wird er auf alle Fälle versäumen, aber für das Begräbnis in einer Woche sollte es passen.

Ausgehend von dieser Rahmenhandlung gibt es aber andererseits sehr wohl viel zu erzählen. Joshua Whitehead lässt in zahlreichen Rückblenden das Leben innerhalb und außerhalb des Reservates erscheinen. Da gibt es viele Episoden, die mit seiner geliebten Kokum (Großmutter) zu tun haben; aber halt auch einige, die mit seinem Stiefvater in Verbindung stehen. Aufgrund des Alkohols, der ständig präsent ist, und der daraus resultierenden Aggression, sind diese Geschichten dann weniger lustig. 

Der Alkohol ist halt wirklich eine Seuche im Reservat. Die Menschen zahlen etwa Eintritt zu Bingo-Veranstaltungen, nur weil als erster Preis eine Flasche Whisky ausgeschrieben ist.

Einen großen Teil nimmt die Erzählung von seinem besten Freund Tias (Mathias) ein; Das Auf und Ab in ihrer Beziehung sowie zur gemeinsamen Freundschaft zu Jordan; Jordan ist in jeder Hinsicht eine starke NDN-Frau, die sich aber zu Tias mehr hingezogen fühlt als zu Jonny. Am Tag vor dessen Rückfahrt ins Reservat enthüllt Tias ihm, dass Jordan von ihm schwanger ist und dass sie mit dem Kind in Winnipeg bleiben möchten.

Diese Rückkehr ins Reservat und zu seiner Mutter ist dann wirklich eine Rückkehr, zumindest für einige Zeit. Gemeinsam schwelgen sie in Erinnerungen an alte Zeiten. Blut ist halt doch dicker als Himbeersirup.

Die Episoden sind durchaus locker-flockig und witzig geschrieben. Außerdem kann man viel für die Praxis lernen! Eine der witzigsten Passagen ist die, in denen beschrieben wird, wie man immer noch telefonieren kann, selbst wenn beide Gesprächspartner komplett abgebrannt und die Handy- und Festnetzverträge längst gekündigt sind!

Nach den anfänglichen Schwierigkeiten mit den Begriffen fand ich das Buch durchaus gut geschrieben, witzig und (für uns Nicht-Kanadier) voll mit neuen Themen. Hat viel Spaß gemacht, es zu lesen!

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