Sonntag, 15. November 2020

Andreas Maier: Die Straße ★★★★★

 Andreas Maier: Die Straße ★★★★★

(Band 3 der Autobiografie)
 
 
Cover: Suhrkamp

 
Das Buch ist im Zeitraum der ersten Hälfte der 1970er-Jahre angesiedelt. Für den "Problem-Andreas" des vorigen Buches ist das die Zeit des Erwachens, speziell des sexuellen. Sein eigenes und vor allem das seiner um drei Jahre älteren Schwester.

In diesem Buch gibt es einerseits urkomische Situationen, die Andreas Maier sehr genau beobachtet hat und die er auch ebenso genau auf den Punkt bringt. Andererseits gibt es auch sehr dunkle Abschnitte, in denen er von der alltäglichen Pädophilie der Väter und Mütter der Barbara-Siedlung in Friedberg berichtet. Genauso wie von klarem Kindesmissbrauch, der vor allem in den "Hexenhäusern" der Altstadt stattfindet.


Dabei stehen ältere Männer vor diesen Hexenhäusern der Altstadt und warten auf Knaben, die von der Schule nach Hause gehen; bevorzugtes Alter: 9-11 Jahre. Auch Andreas wird eines Tages in so ein Haus gelockt. Die Frauen dieser Männer sind entweder mit beteiligt oder werden von ihnen rüde weggescheucht. Es beginnt damit, dass er freundlich aufgefordert wurde, in dieser Hitze doch die Jacke abzulegen. Wie weit es dann wirklich gekommen ist, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Er weiß nur noch, dass er irgendwann gebeten hat, gehen zu dürfen.

Bis zum Äußersten ist es aber bei John gegangen, einem Austausschüler aus den USA, der bei den Maiers gewohnt hat. Andreas hat irgendwann mitbekommen, dass das der Grund ist, warum sich John von da an einen Fettpolster angefressen hat, den er wie einen Schutzschild trägt.

Die Geschichte Johns nimmt das letzte Viertel des Buches ein, das sich schon ziemlich düster und beklemmend liest.

Es muss ja aber nicht immer so schlimm wie bei John kommen. Der Autor beschreibt immer wieder auch die mehr oder weniger verkappte Pädophilie innerhalb der eigenen Familie. Nicht einmal schreibt er da über Söhne, die mit ihren Müttern die Mittagspause im ehelichen Schlafzimmer verbringen. Oder von Vätern, die ihre Töchter oder deren Freundinnen auf ihrem Schoß sitzen lassen und dabei ihre spezielle Freude daran haben. Bis die Ehefrau dann doch einschreitet und die Väter von den Mädchen ablassen.

Aber dann gibt es doch die Kapitel über das Erwachsenwerden seiner drei Jahre älteren Schwester. Das ist so treffend beobachtet und beschrieben, dass ich beim Lesen zeitweise auflachen musste.

Es beginnt mit Doktorspielen der Freundinnen, an denen er unfreiwillig teilhaben darf oder muss, und steigert sich später zu den Tagebucheintragungen, die er sich anhören muss. Dabei geht es um schwärmerische Träume der Mädchen, die vor allem von der Zeitschrift Bravo beeinflusst sind.
 
Überhaupt Bravo. Einerseits von den Eltern verboten, weil zu freizügig. Andererseits still geduldet, weil sich die Eltern so die Aufklärung ihrer Töchter ersparen. Nach der Bravo folgt dann der Playboy, in denen die Mädchen lernen, was von ihnen später erwartet wird und wie sie auszusehen haben. Aber an den Playboy kommen nur wenige heran, dementsprechend wird er herumgereicht wie eine Trophäe, die nur Ausgewählte bekommen.

Da sind dann noch die Besuche der Freundinnen untereinander, streng beäugt und überwacht von den Eltern. Da gibt es Kontrollanrufe, ob das Töchterchen wirklich bei der angegebenen Freundin ist. Hinterher kommen dann die Kontrollfragen, wer aller noch dabei war und warum. Am besten gleich im Auto, mit dem sie von ihren Vätern abgeholt werden. Oder vielleicht doch nicht schon hier, denn zu diesem Zeitpunkt ist die Stimmung zu aufgeladen und es könnte jederzeit zur Explosion kommen.

Wenn die Töchter noch älter sind, werden sie dann von den Bühnen der Zeltfeste gepflückt, die von den Blasmusikkapellen bereits verlassen sind und der Jugend zum Tanz übergeben wurden. Die Ohrfeigen gibt es aber erst außerhalb des Zeltes, denn drinnen könnte es zu Rudelbildungen kommen.

Noch später sind es dann die amerikanischen Soldaten, die in Friedberg stationiert sind und die von den Mädchen angehimmelt werden. Sollte sich ein GI tatsächlich mit einem dieser Mädchen auf ein Date einlassen, muss er zunächst durch die elterliche Mangel. Wie so ein Abend abläuft, ist so herrlich beschrieben, dass ich hier eine Textprobe einfließen lassen muss.
Irgendwann schaltete mein Vater den Fernseher ein, und dann mußten alle drei fernsehen, obgleich sicherlich keiner der drei Beteiligten in diesem Augenblick fernsehen wollte. Ich sah es manchmal von der Tür aus. Manchmal saß auch meine Mutter dabei.
Im Grunde besagte die Tatsache, daß mein Vater da herumsaß, bis ihm die Augen zufielen, daß er jederzeit davon ausging, die beiden anderen würden, kaum wäre er selbst nicht anwesend, sofort übereinander herfallen, oder zumindest der Amerikaner über meine Schwester, hier im Wohnzimmer. Das galt es auszusitzen. Es war wie ein Sitzsport. Es galt, länger zu sitzen als der andere.

Wenn auch die dunklen Kapitel nur schwer erträglich sind, so sind sie dennoch treffend und gut beschrieben. Glücklicherweise überwiegen aber die eher heiteren Teile, die einfach wirklich gut gelungen sind und ein echtes Lesevergnügen waren; im wahrsten Sinn des Wortes.

Ich freu mich jedenfalls schon auf Band 4.

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