Donnerstag, 3. Dezember 2020

Jón Kalman Stefánsson: Das Knistern in den Sternen ★★★★☆

 Jón Kalman Stefánsson: Das Knistern in den Sternen  ★★★★☆

 

Cover: piper

Die Familiengeschichte, die sich von den Urgroßeltern bis zum Ich-Erzähler erstreckt, wird großteils aus den Augen des 7-Jährigen erzählt. Auf einer weiteren Ebene ist es der nun 40-jährige Erwachsene, der all diese Erlebnisse niederschreibt. Anlass dafür ist, dass er nach einigen Jahrzehnten wieder in das Viertel von Reykjavik zurückkommt, in dem er aufgewachsen ist.

In einfachen Sätzen, in denen aber jedes Wort passt und sitzt, beschreibt er dessen Erlebnisse und was er so über seine Vorfahren erzählt bekommen hat. Die Formulierungen sind aus kindlicher Sicht wirklich treffend witzig, vor allem im ersten Teil. Allein schon deshalb lohnt es sich, dieses Buch zu lesen!

Zentrale Figuren sind dabei seine Urgroßeltern, seine Eltern und später seine Stiefmutter.

Urgroßvater führt ein sehr unstetes Leben. Es ist ein ewiges Auf und Ab, ein ewiges Schwanken zwischen seriösem Lebenswandel als Immobilienhändler und hoffnungslosen Absturz in den Alkohol. Seine fast 20 Jahre jüngere Frau und die vier Kinder lernen so recht und schlecht mit diesem Umstand zu leben. Einmal verkauft er sein sehr wertvolles Grundstück unter dessen Wert, nur weil die Käuferin schöne Augen hat. Ein anderes Mal bildet er sich ein, Landwirt und Fischer zu sein und kauft einen Bauernhof an der Küste. Das mit dem Fischen ist so eine Sache, denn er hat Angst vorm Wasser. Einwände werden abgetan mit "Pah! Ich fürchte mich auch vor meinen eigenen Träumen und gehe dennoch täglich schlafen!" Dann muss er doch wieder in der Stadt einkaufen und kehrt wochenlang nicht wieder. Die Urgroßmutter lässt die vereinbarte Frist verstreichen, danach zündet sie den Hof an und kehrt mit den Kindern nach Reykjavik zurück.

Eines dieser Kinder wird dann Jahre später der Großvater des Ich-Erzählers werden. Dazwischen müssen sich aber noch seine Eltern kennenlernen. Dafür sorgt die norwegische Großmutter. Die beobachtet eines Tages vom Fenster aus einen jungen Mann, der sichtlich friert. Sie lädt ihn zu sich herauf in ihre Wohnung ein. Im gleichen Raum sitzt ihre Tochter und schreibt gerade einen Brief an ihre Schwester in Prag. Kurze Zeit später sind sie schon gemeinsam im Kino und noch später beim Tanzen. Und hier beim Tanz gibt es eine der besten Stellen im Buch:

Doch da fällt sein Blick auf einen kleinen Fleck auf ihrer Brust, direkt über dem Ausschnitt. Nein, es ist kein Fleck, sondern ein Wort. Er sieht es jetzt, als er ganz dicht vor ihr steht. Ja, ein Wort oder einzelne Buchstaben: Ei – jei – jei 
Die junge Frau, vielleicht hat sie etwas missverstanden, glaubt vielleicht, er sei ihr so nahe getreten, um die Schrift besser entziffern zu können, und nicht, um sie gegen das Böse in der Welt in Schutz zu nehmen, jedenfalls lächelt sie und zieht den Ausschnitt etwas tiefer: Mein Spielkamerad 
Unterhalb davon wird der Ansatz ihrer Brüste sichtbar, ein Körperteil, der schon so manchen braven Jungen um den Verstand gebracht hat. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und flüstert ihm mit heißem Atem ins Ohr: »Das ist ein Gedicht, das ich mir von einer Freundin auf die Haut schreiben ließ. Es hat sieben Zeilen. Du solltest wissen, bis wohin es reicht. Magst du Gedichte?«
Er mag Gedichte. Er hat es gelesen. Nicht gleich, aber doch.

Alles läuft wunderbar und glücklich, bis die Mutter immer wieder, oft wochenlang, nicht da ist. Eines Tages kommt sie wieder in die Wohnung zurück, allerdings nur noch als Schatten ihrer selbst. 
Papa kommt mit einer Frau nach Hause. Sie ist sehr abgemagert. Papa stützt sie, damit das Tageslicht sie nicht wegweht. Die Stühle wirken größer, als sie sich auf einen setzt. Sie trägt ein Kleid meiner Mutter, jenes helle Kleid, das selbst die dunkelsten Wintertage in Hochsommer verwandelt.
Dieser Abschnitt über den Tod und das Begräbnis seiner Mutter und vor allem die Zeit der Leere danach ist dem Autor wirklich sehr berührend und einfühlsam gelungen.

Der junge Erzähler vertreibt sich seine Zeit mit Schule, Spielkameraden und neuerdings mit ein paar Zinnsoldaten, die er geschenkt bekam. Mit ihnen kann er sich unterhalten, denn mit der Stiefmutter ist eine Konversation nicht möglich.

Diese Stiefmutter erscheint plötzlich eines Morgens, obwohl sie am Abend davor noch nicht da war! Ihre Besonderheit sind ihr eisiges Schweigen und der bohrende Blick. Aber nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern und Schwestern sind so. Die Szene, in der diese Familie aus dem hohen Norden nach Reykjavik zu Besuch kommt, ist wieder einmal herrlich gelungen!
Niemand hat ein Wort gesagt, seit Vater verkündet hat: »Willkommen! Nehmt Platz, der Kaffee kommt gleich.« Die Wände biegen sich unter diesem Schweigen. Die Frau steht auf und verschwindet in der Küche. Ich schlenkere noch heftiger mit den Füßen, der Mann wirft mir einen Blick zu, und im nächsten Augenblick sind meine Beine hingerichtet, sie baumeln leblos in der Luft. Ich schlucke.

Zum Tod der Urgroßmutter kommt die ganze Familie noch einmal zusammen, danach verlieren sich die Familie und die Geschichte. Der Erzähler ist jetzt 40 Jahre alt und kommt noch einmal in sein Viertel zurück, in dem er aufgewachsen ist und in dem er jeden Winkel kannte. Aber das ist lange her und in der Zwischenzeit hat sich so viel verändert, dass er diese seine Gegend kaum wiedererkennt.

Wir lebten in der Überzeugung, der Kiosk sei ungefähr ebenso alt wie die Erde, Gott hätte da schon eingekauft, während er alles andere erschuf, die Sonne, die Käfer und die Sommerferien. Wir gingen selbstverständlich davon aus, dass Jesus das Brot für das letzte Abendmahl bei Bäcker Bödvar erstanden hatte ... Ja, richtig geraten, Bödvar gibt es auch nicht mehr.

Also schreibt er alles noch schnell auf, bevor die Erinnerung zu sehr verblasst.

Ist ihm ausgezeichnet gelungen!  

1 Kommentar:

  1. Auf nach Reykjavik! Also dann, wenn es wieder möglich sein wird! Vorher lese ich das Buch!

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