Dienstag, 18. Juni 2019

Kapka Kassabova: Die letzte Grenze ★★★★☆

Kapka Kassabova: Die letzte Grenze 


Cover: hanser

Strandscha. Nie gehört? Also, ich kenne dieses Wort erst seit wenigen Wochen. Es bezeichnet ein Gebirge im Südosten Europas, durch das die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei verläuft. Diese Gegend war seit Jahrhunderten Grenzgebiet und die Autorin Kapka Kassabova hat zu Strandscha ein besonderes Verhältnis. Geboren 1973 in Bulgarien und aufgewachsen in Sofia, durfte sie in der kommunistischen Ära nie dorthin, wenn sie mit ihren Eltern am Schwarzmeerstrand Urlaub machte. Als sie 18 war (1991) emigrierte sie mit ihren Eltern nach Neuseeland und wanderte letztlich 2005 nach Schottland aus, wo sie heute lebt.

Aber die Sehnsucht nach der Strandscha ließ sie nie wirklich los; schon allein deswegen, weil es eben immer verboten war, dorthin zu gehen. Endlich war es soweit: sie unternahm eine mehrmonatige Studienreise in dieses Gebiet - und zwar allein! Sie war nicht nur in der Strandscha, sondern auch in den Rhodopen und hat dabei alle drei beteiligten Länder besucht: Bulgarien, Türkei und Griechenland.

Was sie dort alles erlebt hat und wie es in diesem Dreiländereck heute zugeht, hat sie in diesem Buch niedergeschrieben, das 2017 erschienen ist. Und zwar so eindringlich, liebevoll und lebendig, dass sie dafür schon etliche Preise eingeheimst hat. Mir selber ging es beim Lesen so, dass ich am liebsten nächste Woche dorthin gefahren wäre, um selbst alles mit eigenen Augen zu sehen!



Einige Schauplätze des Buches hab ich hervorgehoben. Es gibt zahlreiche weitere.
Quelle: Google Maps (Klick auf den Link öffnet die Karte)

Dieses Gebiet wurde in antiken Zeiten von den Thrakern bewohnt. Das war ein friedfertiges Volk, das keine Eroberungsfeldzüge unternahm, dafür aber als äußerst trinkfest galt. Herodot beschreibt im 5. Jhdt. v. Chr. die Thraker als "das größte Volk nach den Indern"; selbst in Homers Ilias kommen sie vor. Auch in diesem Buch begegnen sie uns immer wieder. Bekannt waren sie besonders für ihr Wissen um die Metallurgie, vor allem Gold. Es gibt von ihnen Kunstwerke aus Gold auf höchstem künstlerischen Stand.

Es sollte aber nicht immer so friedlich bleiben. Seit ca. 700 Jahren wird hier ethnische Säuberung betrieben, die eine Konstante in diesem Buch ist. Sie kommt in allen nur möglichen Spielarten vor.

Etwa: ihr könnt in Bulgarien bleiben, wenn ihr die türkischen Namen gegen bulgarische tauscht; ansonsten müsst ihr in die Türkei ausreisen. Oder: ihr könnt in der Türkei bleiben, aber ihr müsst zum Islam konvertieren. Oder der berühmt-berüchtigte große Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg (Vertrag von Lausanne), bei dem Griechenland und die Türkei jeweils ihre Türken und Griechen in das jeweilige Land auswiesen. Dessen Spuren sind bis heute sichtbar, vor allem in Griechenland. Orte mit dem Namen "Nea ..." (also "Neu ...") weisen immer darauf hin, dass hier Griechen nach diesem Bevölkerungsaustausch angesiedelt wurden. Selbst 1989, kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, gab es in Bulgarien noch eine großangelegte Namensänderungsaktion für die Türken im Land

Die Folge war natürlich ein ständiges Hin und Her von ganzen Bevölkerungsgruppen sowie das Flüchtlingswesen - bis heute, denn syrische Flüchtlinge sind in diesem Gebiet ebenfalls tägliche Realität.

Besonders schlimm traf es Menschen, die die DDR über diese Grenze verlassen wollten. Sie machten im Bruderland Bulgarien Urlaub und schlugen sich dann in die Strandscha, um dort in die Türkei zu gelangen. Und so wird jetzt auch klar, warum die junge Kapka nie in dieses Gebiet gehen durfte: weil es nämlich Sperrgebiet war. Wer in dieser Wildnis die Kreuzottern und Vipern überlebt hat, bekam es dann mit Grenzstreifen zu tun, die mit feinem Sand ausgelegt waren: selbst ein Vogel hätte dort seine Spuren hinterlassen. Dahinter wartete dann ein Falldraht, der Alarm auslöste, sobald jemand daran stieß. Grenzstreifen und Stolperdraht waren aber noch auf bulgarischem Gebiet, das wussten die Flüchtenden aber nicht. Ihnen wurden nämlich von der Stasi bereits in der DDR gefälschte Karten verkauft, die sie glauben ließen, sie hätten es bereits in die Türkei geschafft, obwohl sie immer noch in Bulgarien waren. Erleichtert ließen sie sich in der vermeintlichen Freiheit auf einer Wiese nieder, nur um gleich darauf doch noch geschnappt zu werden. Die Konsequenzen kann sich jeder ausmalen; ein Beispiel wird im Buch ausführlich beschrieben.

Die Autorin beschreibt aber vor allem, wie es in diesem Dreiländereck jetzt, nach der Wende, zugeht. Da gibt es etwa einen regen Grenzverkehr zwischen Edirne (Türkei) und Svilengrad (Bulgarien), weil die Türken die dortigen Spielhöllen nutzen möchten. Die umliegenden Bordelle machen ebenfalls gute Geschäfte, wie man hört. Oder wie Nachkommen der zweiten und dritten Generation immer noch sehnsüchtig über die Grenze zu dem Dorf blicken, aus dem ihre Großeltern vertrieben wurden. Sie verlassen ihre neue Heimat aber trotzdem nicht, weil sie hier bereits viel zu verwurzelt sind. Oder die vielen verlassenen Häuser in dieser gottverlassenen Gegend, die nach den Vertreibungen leer zurück geblieben sind. Oder, oder, oder..

Ich hab mir beim Lesen dieses Buches besonders viele Stellen markiert. Einige drehen sich um das oben Gesagte, viele drehen sich um den Aberglauben, den sämtliche Religionen nicht ausrotten konnten.

Es gibt Frauen, die nachts im Dorf herumstreifen und die Kleider der Leute mit verwünschtem Wasser und Friedhofserde bespritzen. Du ziehst dein Gewand an und bist verflucht«, sagte er.»Lachen Sie nicht«, sagte die schöne Russin. »Einmal habe ich vor meiner Tür ein schwarzes Kruzifix gefunden. In meiner Unwissenheit habe ich es aufgehoben. Das war vor zwanzig Jahren. Seit damals habe ich nur Pech. Man sollte nie ein Kruzifix mit bloßen Händen aufheben.
[...] sagte Stamen und schob einen Teller mit Schweinefleisch vor mich hin. »Essen Sie auf. Was wir brauchen, sind Frauen, nette Frauen, die singen können. Warum bleiben Sie nicht?«»Oder kommen zumindest einmal im Jahr her, wie ich«, sagte der polnische Emigrant.»Die vielen großen, leeren Häuser«, meinte die schöne Russin. »Sie jammern nach Leuten.« »Unsere Kirche hat seit zwanzig Jahren keine Hochzeit erlebt«, sagte Stamens Mutter.
Sie glauben, die Einheimischen waren unschuldig? Ha! Nehmen Sie mal einen Schäfer aus der Gegend, eine schlichte Seele. Die Art Mensch, der ein junger Flüchtling, der hungrig ist, friert, sich im Wald verirrt hat, trauen kann, wenn der Hirte sagt: ›Sie bleiben hier, ich bringe was zu essen.‹ Dann geht er und informiert die Grenzpatrouille. Handschellen und Auf Wiedersehen. Und der Schäfer kriegte eine Uhr. Eine sowjetische Uhr. So waren diese netten Einheimischen.
Ende der 1960er Jahre – so heißt es – setzte die Stasi noch eins drauf: Sie richtete über die Botschaft in Sofia einen Fonds ein, aus dem bulgarische Soldaten eine Belohnung erhalten sollten, wenn sie DDR-Bürger auf Abwegen erschossen. Es gab auch andere Vergünstigungen: Medaillen für »außerordentliche Leistungen«, Extraurlaub und manchmal sogar Ferien in der DDR.
Sie hatten eine Landkarte, aber es war eine in der DDR gekaufte Karte, extra für solche wie sie gedruckt, die sich für Grenzen interessierten, und die in der DDR hergestellten Karten von Warschauer-Pakt-Staaten zeigten bewusst falsche Grenzverläufe.
Als ich zuletzt in Bulgarien gelebt hatte, war dieser Checkpoint für alle außer für die Privilegierten und die zum Unheil Verurteilten geschlossen gewesen. Privilegierte gab es wenige, darunter die Zollbeamten, so korrupt, dass Svilengrad seit damals eine wohlhabende Stadt ist. Die Verdammten waren zahlreicher. Im Besonderen waren es 1989 300.000 von ihnen, die über Nacht Exilierte in Flüchtlingslagern in den Außenbezirken türkischer Städte wurden. Es waren die ethnischen Türken Bulgariens, die letzten Opfer des europäischen Kommunismus.
Wenn in Europa also jemand meine Nationalität zu erraten versucht und fragt, was sind Sie, Grieche, Türke, Bulgare, Mazedonier, Albaner? Dann sage ich, ja, das stimmt«
Eigentlich gab es damals eine Menge Deutsche hier. Aber den einen kann ich nicht vergessen. Er hatte es durch den Draht geschafft, ohne den Alarm auszulösen. Sie suchten nach ihm. Er stieg oberhalb des Dorfes herum, kam auf eine sonnige Wiese und setzte sich hin, weil er glaubte, schon in Griechenland zu sein, um Äpfel zu essen. Er hatte ein Jagdmesser und schnitt die Äpfel auf, als ein Hirte ihn sah. So ist das gegangen. Die meisten wurden von Hirten und alten Frauen erwischt.
Dass er vor dem [griechischen, Anm.] Militärdienst davongelaufen war, bedeutete, dass er zwanzig Jahre lang nur während einer Generalamnestie nachhause fahren konnte, und die gab es nur bei Wahlen. »Glücklicherweise«, meinte er, »ist Griechenland ziemlich instabil, und so bin ich regelmäßig heimgekommen.«
»Man hat einen Karikaturisten nach der Zukunft Griechenlands befragt«, meinte Goran und drückte seine Zigarette aus. »Und der Karikaturist sagte: Wir hatten eine große Vergangenheit. Man kann nicht alles haben.«
Nachher tranken wir mit dem Bürgermeister Tee auf dem Dorfplatz.»Das Militär ist endlich weg«, sagte Herr Karadeniz, »aber jetzt sind die Flüchtlinge da. Sie gehen durch die Stadt. Wenn man sie so sieht, wie sie über die Hügel wandern, gar nichts mehr haben, dann verstehen wir, was unsere Vorfahren durchgemacht haben. Und man fragt sich: Wann wird das aufhören?«
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Die Zitate sprechen für sich. Großartiges Buch!

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