Dienstag, 28. August 2018

Gerd Koenen: Die Farbe Rot ★★★★★

Gerd Koenen: Die Farbe Rot 


Cover: C.H.Beck



Als Gerd Koenen sein Buch 2017 fertig geschrieben hatte, musste er bereits gewusst haben, dass es der Andreas Hofer 2018 lesen und sich daran beinahe drei Monate abmühen würde. (So lange habe ich noch selten für ein Buch gebraucht, selbst "Die Ordnung der Welt" schaffte ich in wesentlich kürzerer Zeit.)  Er schreibt nämlich in seinem Nachwort:

Dieses Buch folgt dem Modus eines knappen analytischen Erzählens, was jeden einzelnen Themenkomplex betrifft – und ist dennoch zu einem epischen Format angeschwollen, dem vieles, auch Substantielles geopfert werden musste. Es fordert seinen Leserinnen und Lesern einiges an Ausdauer und Interesse ab, versucht aber, in seiner langen, tastenden Argumentation eine mittlere Linie der Komplexität und eine erzählerische Spannung zu halten, die es über diese weite Strecke trägt. [Anm: Hervorhebungen von mir]

Treffender kann man dieses Buch kaum beschreiben.




Es wird nämlich einerseits tatsächlich "knapp erzählt", andererseits sind die Sätze derart lang, komplex und verschachtelt, dass ich des öfteren im Text zurückgehen musste, um das Gelesene zu wiederholen. In einem einzigen Satz wird also eine ganze Menge Inhalt transportiert. Und solche Sätze sind keinesfalls Einzelfälle, sondern sie stellen den Normalfall dar; 1100 Seiten lang, ein wahrhaft "episches Format".
Es fordert daher wirklich "einiges an Ausdauer" ab. Aber weglegen konnte ich es auch nicht, dazu war es einfach zu interessant. Also ist es ihm offenbar wirklich gelungen, "eine mittlere Linie der Komplexität und Spannung" zu halten.

Aber worum geht es eigentlich darin? Der Autor fasst die Fachliteratur der letzten Jahrzehnte zusammen und beschreibt Aufstieg und Fall des Kommunismus, der ja allgemein mit der Farbe Rot assoziiert wird; daher auch der Titel des Buches. In seinen Nachbetrachtungen schreibt er auch, dass er "Jäger und Sammler" in dieser Literatur war und dass für "Fachkollegen wahrscheinlich wenig Neues" dabei sein wird. Er hält es aber für notwendig, von Zeit zu Zeit für ein breiteres Publikum diese Literatur zusammenzufassen und aufzubereiten.

Er beginnt tatsächlich mit einer Beschreibung, welche Bedeutung diese Farbe in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten hatte; berichtet über frühe Ideen und Formen von "idealen" Gesellschaften (von Platons Politeia bis zu Thomas Morus' Utopia und etlichen anderen); und kommt schön langsam in die Zeit der Aufklärung, der industriellen Revolution und der damit einsetzenden Änderungen in der Arbeitswelt und der Gesellschaft insgesamt.

Klarerweise nehmen Karl Marx und Friedrich Engels sehr breiten Raum ein, ebenso deren Vorgänger und Nachfolger ihrer Ideen, vor allem die Entwicklung des deutschen Sozialismus.

Schön langsam nähern wir uns zeitlich dem Ersten Weltkrieg und der Entwicklung in Russland. Die Kapitel zur Februar- und Oktoberrevolution, dem anschließenden Bürgerkrieg und der brutalen, terroristischen  Machtübernahme der Bolschewiken unter Lenin, Stalin und Trotzki sind natürlich sehr ausführlich; ebenso die Themen Stalinistischer Terror und Säuberungswellen.

Die Ausführlichkeit reicht bis zu Stalins 70. Geburtstag, seltsamerweise gar nicht bis zu seinem Tod. Ab hier malt er dann wirklich "mit breitem Pinsel" (wie er selbst schreibt). Zu Stalins Nachfolgern herauf bis Gorbatschow hätte ich gerne mehr gelesen, ebenso über die postsowjetische Ära.

Auch Mao Zedongs China wird weit nicht so ausführlich beschrieben wie die Sowjetunion, aber für meine Gefühle und Bedürfnisse durchaus ausreichend. Den "Großen Sprung nach vorn" und dessen verheerende Auswirkungen kannte ich schon ein wenig, die Kulturrevolution noch nicht so sehr. Beide Themen waren für mich wieder gerade im rechten Ausmaß behandelt.


Insgesamt finde ich, dass Gerd Koenen hier ein großer Wurf gelungen ist. Das Buch stellt eine sehr schöne und gelungene Momentaufnahme zum Stand der historischen Forschung dar - trotz meiner paar Kritikpunkte von oben. Eine sehr gute Rezension gibt es von Herfried Münkler in der FAZ.


Ob ich das Buch weiterempfehlen würde? Ja, eindeutig ja: notwendiges Interesse wird vorausgesetzt, Kaffee-Quelle muss gesichert sein; dann klappt's auch mit dem Durchhalten!

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