Montag, 29. August 2016

Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt ★★★★★

Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt 


Cover: Suhrkamp / Insel

Dieses Buch ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich und herausragend. Es existiert (derzeit) nur in gebundener Form, weder als Taschenbuch und schon gar nicht als ebook. Erstens. Zweitens, die 1130g hängen sich auf dem täglichen Arbeitsweg ganz schön in den Rucksack! Wirklich mühsam wird das Lesen dann aber im Bett. Und es ist drittens mit 1150 klein bedruckten Seiten (exklusive diverser Anhänge) auch vom Volumen her enorm - daher hab ich mich auch wochenlang daran abgearbeitet.

Und dennoch würde ich 6 oder 7 Sterne vergeben, wenn meine Bewertungsskala das zuließe. Denn ich habe schon lange kein Buch mehr in der Hand gehabt, das meinen geschichtlichen und kulturellen Horizont derart erweitert hat. Historikerkollegen des Autors (zB Herfried Münkler) bezeichnen dieses Buch als kommendes Standardwerk für die nächsten Jahre oder Jahrzehnte zu diesem Thema - eine Meinung, die auch mein laienhafter Eindruck bestätigt!

Ulrich Menzel hat 30 Jahre Arbeit, Recherchen, Erfahrungen und Daten in dieses Buch einfließen lassen. Es geht um nicht weniger als um große, weltumspannende Reiche der letzten 1200 Jahre, die mehr als eine Generation Bestand und eine internationale Ordnungsfunktion wahrgenommen hatten. Und da gibt es gar nicht so viele: von den 20 in Frage kommenden Mächten hat er 12 in dieses Werk aufgenommen. Der Bogen spannt sich von den Chinesen über die Mongolen, Osmanen, Genuesen, Venezianern, Spaniern, Portugiesen, Niederländern, Franzosen, Engländern bis zu den USA.



Diese beherrschenden Reiche beschreibt er dann eben ausführlich: ihre Vorgeschichte, ihren Aufstieg und ihren Niedergang, die Gründe für Aufstieg und Niedergang und was sie befähigt hat, internationale Ordnungsfunktionen wahrzunehmen. Das alles untermauert mit äußerst umfangreichen Literaturhinweisen und Datenmaterial in Form von Tabellen, Grafiken und Karten.

Es ist auch interessant, welche Reiche es nicht in das Buch geschafft haben, zum Beispiel:

  • Deutschland/Preußen sowie Österreich: zu lokal, nicht international tätig
  • 1000jähriges Reich: zu kurzlebig


Es würde den Rahmen dieses Posts bei weitem sprengen, wenn ich jetzt auf die Inhalte näher eingehen würde. Ich möchte nur ein paar Themen erwähnen, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen:

  • Seehandel: die meisten Reiche waren Seemächte, große Ausnahmen sind eigentlich nur die Mongolen und Osmanen, selbst Spanien stuft er eher als Land- denn als Seemacht ein. Alle anderen haben ihren Reichtum durch Handel zur See mit Gewürzen und Luxuswaren erwirtschaftet (später kamen noch Tabak und Zucker dazu), die über weite Distanzen transportiert werden mussten.
    Dieser Warenstrom ging über Jahrhunderte hauptsächlich von Asien nach Europa. Die Schiffe segelten leer (dh. mit Ballast) nach Osten und kamen schwer beladen wieder zurück.
  • Schiffsbau:  Mit der Zeit wurden die Schiffe immer größer, weil einerseits immer mehr Waren transportiert wurden und weil andererseits die Kriegs- und Handelsbegleitflotten wuchsen. Es begann mit kleinen Dschunken und Galeeren, die bis in die Neuzeit eingesetzt wurden, die aber mit der späteren Ausrüstung mit Kanonen nicht mehr brauchbar waren; das waren erst die Nachfolger wie GaleassenGaleonen und Linienschiffe.
    Wirklich revolutionär war die niederländische Entwicklung der Büse: mit diesem Schiff konnten die Fischer wochenlang auf See sein, ohne den Hafen zwischendurch anlaufen zu müssen, weil der gefangene Fisch gleich an Bord verarbeitet wurde. Die Niederländer haben in ihrer Blütezeit praktisch in ganz Europa ihren Fisch verkauft.
    Einen radikalen Umbruch brachten die Dampfschiffe, die nicht mehr wie die Segelschiffe an bestimmte Routen (Wind, Strömungen) und Jahrezeiten gebunden waren.
  • Die Versorgung der Werften mit Holz war strategisch äußerst wichtig; vor allem, als in Mittel- und Südeuropa die Wälder abgeholzt waren, mussten der Ostseeraum und (später) Amerika einspringen.
  • Sehr wichtig im Zusammenhang mit der Seefahrt waren aber auch technische Kenntnisse wie Kompass, Navigation und vor allem Karten und Globen. Das Wissen um die Windverhältnisse im südlichen Atlantik und im Indischen Ozean (Monsun) machte es den Portugiesen überhaupt erst möglich, Südostasien für sich zu erschließen.
  • Sklavenhandel ist nicht etwa eine Erfindung der amerikanischen Plantagenbesitzer, sondern war schon lange vorher und seit jeher europäische Domäne. Praktisch alle beschriebenen Imperien betrieben ihn intensiv, um das Geld zu verdienen, das einen Kauf von asiatischen Waren erst möglich machte.

Immer wieder sind Verträge ein Thema. Ein Anhang listet seitenweise wichtige Verträge chronologisch auf. Hier nur ein kurzer Auszug der allerwichtigsten:

  • Im Vertrag von Alcáçovas (1479, also noch vor Kolumbus) wurde die Welt in eine nördliche und südliche Hälfte geteilt. Der Norden gehörte Spanien, der Süden Portugal, die Grenzline verlief auf Höhe der Kanarischen Inseln. Damit war Spanien vom lukrativen Handel mit Afrika (Gold, Elfenbein, Sklaven) ausgeschlossen. Später hat dieser Vertrag Portugal auch die Verbindung um Afrika herum nach Indien freigehalten.
  • Zwei Jahre nach der ersten Fahrt von Kolumbus kam es zu einer weiteren Aufteilung der Welt zwischen Spanien und Portugal. Im Vertrag von Tordesillas (1494) wurde die westliche Hälfte des Globus den Spaniern und die östliche den Portugiesen zugesprochen; Schirmherrin über diese Teilung war Mutter Kirche. Portugal gelang es, die ursprünglich angepeilte Grenze noch etwas nach Westen zu verschieben, sodass auch der östliche Teil von Brasilien noch ihm zufallen würde. Sehr wahrscheinlich wusste zu dieser Zeit nur Portugal etwas von diesem Land, das es bei seinen Erkundungsfahrten im südlichen Atlantik entdeckt hatte.
    Zunächst sah es also so aus, als hätte Portugal Spanien über den Tisch gezogen. Erst später stellte sich heraus, dass tatsächlich Spanien das große Los gezogen hatte: die unerschöpflichen Silberminen in Mexiko und Peru waren 1494 noch nicht bekannt.
  • Der Westfälische Friede von Münster und Osnabrück (1648) beendete den 30jährigen Krieg und legte die Grenzen in Europa fest, wie sie im wesentlichen auch heute noch erkennbar sind. Mitteleuropa war zerstört und entvölkert und musste erst wieder aufgebaut werden. Die Karten der Macht in Europa wurden neu verteilt.
  • Der Friede von Utrecht (1713) beendete den Spanischen Erbfolgekrieg, in dem Frankreich zwar die Krone in Spanien erobern und halten konnte, ansonsten aber gewaltige Gebietsverluste hinnehmen musste: Kanada und Florida sowie Gibraltar und Menorca gingen an England, das damit den Grundstein für seinen eigenen Aufstieg legte.
  • Allerdings gingen nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg im Frieden von Paris (1783) die nordamerikanischen Kolonien für England verloren. Dieser tiefe Einschnitt beendete die Überlegenheit Englands aber nur kurz, denn unmittelbar darauf begann die Industrielle Revolution - in England.


Mich haben sämtliche Detailbeschreibungen der einzelnen Reiche wirklich beeindruckt. Viele Imperien hatte ich vorher noch nie so betrachtet oder als solche gar nicht wahrgenommen. Das gilt selbst für die beiden USA-Kapitel; dabei sind uns Westlern die USA geistig und zeitlich noch am nächsten und deshalb wahrscheinlich auch am ehesten bekannt.

Auf Seite 1015 ist dann der Satz zu lesen: "Es ist geschafft - für den Autor wie für die Leser." Es folgen aber noch weitere 130 Seiten Nachbetrachtung, die schon angesprochene Liste von Verträgen sowie 70 (!) Seiten Literaturverzeichnis! Ein wahres Mammutwerk also.

Bei aller Begeisterung hätte ich aber doch ein paar kleine Kritikpunkte anzubringen:

  • So informativ und anschaulich Grafiken sein können: wenn allerdings deren Achsen nicht beschriftet sind - wie es leider häufig in diesem Buch vorkommt - verlieren sie an Wert. §1 bei Diagrammen lautet ja nicht umsonst "Immer Achsen beschriften" (oder auf englisch "always label your axes")!
  • Das Buch gibt es (derzeit) nur in gebundener Form (hardcover) mit entsprechendem Gewicht und Unhandlichkeit. Ich hab mir noch bei keinem anderen Buch so sehr gewünscht, dass es auch eine Ebook-Version davon geben möge! 


Aber abgesehen davon: wer sich für das große historische Bild großer beherrschender Reiche interessiert und bereit ist, Durchhaltevermögen unter Beweis zu stellen, dem möchte ich dieses überwältigende Buch auf alle Fälle ans Herz legen!

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