Samstag, 6. Januar 2018

Herta Müller: Atemschaukel ★★★★☆

Herta Müller: Atemschaukel 


Cover: S. Fischer Verlage

Herta Müller kannte ich zwar vom Namen her, ihr Werk war mir bis jetzt aber komplett unbekannt. Sie steht aber heuer im März im Mittelpunkt der "Literatur im Nebel" in Heidenreichstein, und so ganz unvorbereitet möchte ich da nicht hinfahren, da wird schon ein gewisses Vorwissen vorausgesetzt.

Also hab ich mir einmal ihr bekanntestes Werk vorgenommen.

Anfang 1945 wechselt Rumänien die Fronten: nicht mehr mit Nazi-Deutschland verbunden, sondern jetzt gibt Stalin den Ton an. Und der verlangt gleich einmal, dass alle mit deutschen Wurzeln (Sachsen, Donauschwaben) zur Zwangsarbeit in russische oder ukrainische Lager verschleppt werden. 

Die Mutter von Herta Müller war selbst betroffen und verbrachte fünf Jahre in so einem Lager. Ihre spärlichen Erzählungen sind sicherlich auch in die "Atemschaukel" eingeflossen, sie waren aber zu dürftig, um ein Buch darüber schreiben zu können. Da eben zu Hause nicht viel über diese Zeit gesprochen wurde, Herta Müller aber unbedingt darüber schreiben wollte, musste sie andere Quellen suchen. Sie fand sie in der Person ihres Freundes Oskar Pastior, der ebenfalls fünf Jahre deportiert war.

Bis hierher klingt das Geschriebene noch ziemlich abstrakt und unpersönlich. Von Krieg und Verschleppung hat man schon öfter mal gelesen, die Geschichtsbücher sind voll davon. Aber was das wirklich heißt, wenn von einem Tag auf den anderen das Leben auf den Kopf gestellt wird, kommt erst so richtig zum Vorschein, wenn es an einem Einzelschicksal festgemacht wird.

Genau das macht Herta Müller in ihrem Roman. Leo wird als 17-Jähriger ins Lager deportiert, einfach nur deshalb, weil er deutsche Vorfahren hat. Entwurzelung, Heimweh und vor allem Hunger sind die Dauerthemen, um die sich alles dreht - nebst schwerer körperlicher Arbeit unter unglaublichen und gesundheitsschädigenden Bedingungen, Läusen, Demütigungen, Lagerdrill, Kapos, Kälte, Krankheiten und und und. Der Hunger ist so arg, dass Leo ihn mit einem Hungerengel personalisiert; immer wieder erscheint er ihm, er ist Dauergast und sein ständiger Begleiter.

Das Lagerleben ist so eindringlich und realistisch beschrieben, wie es wohl nur jemand kann, der es selbst erlebt hat; Oskar Pastior war eben so einer. Diese Beschreibungen machen den Großteil des Romans aus und sind auch die besten Teile des Buches. Weniger anfangen kann ich mit den Stellen, die etwas "poetischer" sein sollen; die wirken auf mich eher aufgesetzt; ich hatte das Gefühl, sie sind drinnen, weil halt jemand gesagt hat, dass es auch etwas poetisch sein soll. Auf diese Teile hätte ich ohne Weiteres verzichten können.

Ich hab mir mehrere Stellen markiert, eine davon möchte ich hervorheben und zitieren. Die Situation: Leo hat von einer Russin im Dorf ein Taschentuch geschenkt bekommen. Diese Russin hat einen Sohn, der selbst in ein Arbeitslager gesteckt wurde; in Leo sieht sie quasi ihren eigenen Sohn. Leo beschreibt das Taschentuch außergewöhnlich und auffallend genau:
Das schneeweiße Taschentuch aus feinstem Batist war alt, ein gutes Stück aus der Zarenzeit. Es hatte einen handgestickten Ajour-Rand, Stäbchen aus Seidenzwirn. Die Lücken zwischen den Stäbchen waren akkurat genäht und in den Ecken kleine Seidenrosetten. So etwas Schönes hatte ich lang nicht mehr gesehen.
Da musste ich bei aller Tristesse doch schmunzeln. Spätestens jetzt war klar, dass "Atemschaukel" von einer Frau geschrieben wurde. Kein Mann hätte die Stäbchen aus Seidenzwirn jemals wahrgenommen geschweige denn beschrieben; ich glaube, nicht einmal unter Lagerbedingungen. Ich musste erst einmal recherchieren, was ein Ajour-Rand ist.

2009 hat Herta Müller den Nobelpreis für Literatur bekommen. Ich werde gleich im Anschluss noch ein Buch von ihr lesen (und ev. noch weitere), denn nur für die "Atemschaukel" kann der Preis nicht gewesen sein. Gut, es haben schon Leute den Preis für weniger bekommen (zB Bob Dylan, *kopfschüttel*), aber in dieser Liga erwarte ich mir schon noch etwas mehr. Mal sehen.

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