Donnerstag, 16. November 2017

Mario Vargas Llosa: Gespräch in der Kathedrale ★★★★☆

Mario Vargas Llosa: Gespräch in der Kathedrale 


Cover: suhrkamp

Wenn ich mich nicht verzählt habe, dann war dieses Buch inzwischen das dreizehnte, das ich von Mario Vargas Llosa gelesen habe. Nicht alle waren genial, aber dieses hier gehört ganz sicher zu seinen besseren, obwohl er bei Veröffentlichung erst Anfang dreißig war! In einem Interview meinte er einmal, wenn er eines seiner Werke auf eine Insel retten müsste, dann dieses.

Er erzählt darin die bewegte Geschichte Perus der 1950er-Jahre, als das Land von einer Militärdiktatur geprägt war. Was es hieß, in so einem Land der Korruption, der Oligarchen und der Repression zu leben, erzählen einander Ambrosio und Santiago in der "Kathedrale". Nein, keine Kirche, sondern eine schmierige Gastwirtschaft irgendwo in Lima.

Das Buch ist wirklich komplex aufgebaut und eine Inhaltsangabe ist kaum möglich; in der Wikipedia hat es trotzdem jemand versucht, meine Hochachtung. Für jemanden, der das Buch selbst nicht gelesen hat, ist sogar die wahrscheinlich kaum verständlich und verwirrend; und dennoch ist sie nur sehr oberflächlich.

Die Komplexität ergibt sich aus den vielen Erzählsträngen und Personen, sowie den krassen Zeitsprüngen. Irgendjemand hat nachgezählt und ist auf 70 Personen und deren Geschichte(n) gekommen. Die Szenerie kann von Satz zu Satz schlagartig wechseln, sodass in einem Strang eine Frage gestellt wird, die Antwort aber aus einem ganz anderen kommt. Dennoch findet man sich meistens zurecht - zumindestens nach einiger Übung.

Als Rahmenhandlung dient ein Gespräch, das Santiago und Ambrosio in der schon erwähnten "Kathedrale" führen. Santiago ist der Sohn des Industriellen Zavala, der sich aber bewusst von seiner Familie abwendet. Ambrosio war unter anderem Chauffeur bei den Zavalas, aber auch bei Cayo Bermúdez, dem Polizeichef und späteren Innenminister in der Militärregierung Odría (einer der wenigen authentischen Namen). Das Gespräch findet nach einem zufälligen Aufeinandertreffen der beiden statt.

Aus diesen 70 Einzelfäden wird so nach und nach eine Art Wandteppich, ein Gobelin, gewebt; als Leser ist man quasi bei dessen Herstellung dabei und erkennt mit der Zeit, welches Bild da entsteht. Die wichtigsten Elemente dieses Bildes sind:
  • Der Polizeichef Cayo Bermúdez mit seinen Spitzeln, Überwachungen, Störungen von Veranstaltungen des politischen Gegners, Einschüchterungen, und und und.
  • Hortensia, die Mätresse von Don Cayo, und deren Freundin Queta. Beschrieben werden Aufstieg und Fall der beiden, in unmittelbarem Zusammenhang mit Aufstieg und Fall ihres Gönners Cayo
  • Die Familie Zavala: Senator Fermín, ein angesehener, wohlsituierter Oligarch der absoluten Oberschicht Perus. Seine bigotte und hysterische Frau Zoila. Sowie deren drei Kinder Santiago, Chipas und Teté. 
  • Santiago Zavala, der abtrünnige Sohn der Familie. Er schließt sich auf der Uni einer kommunistischen Zelle an und wird bei der erstbesten Gelegenheit verhaftet. Seinem Vater Fermín gelingt es bereits am nächsten Tag, ihn aus dem Gefängnis wieder herauszuholen. Er bricht den Kontakt zur Familie ab und wird Redakteur in einer Zeitung; erst kurz vor seiner Hochzeit mit Ana kommt es zu einem Wiedersehen - das prompt in einem Eklat endet.
  • Ambrosio, der Schwarze, der schon bald in die Kriminalität schlittert, aber bei Don Cayo unterkommt, weil ihn dieser noch von früher kennt und als bewährten Schläger schätzt. Solange Cayo Polizeichef ist, ist Ambrosio dessen Chauffeur, sobald dieser Innenminister wird, wechselt Ambrosio zu den Zavalas. Später wird er Hortensia ermorden, weil sie Fermín Zavala wegen seiner Homosexualität erpresst und Ambrosio ihn davon befreien möchte.
  • Amalia ist Dienstmädchen bei den Zavalas und später bei Hortensia. Ambrosio ist seit jeher an ihr interessiert, aber erst im zweiten Anlauf gelingt ihm die Eroberung. Sie müssen nach dem Mord an Hortensia Lima schlagartig verlassen und kommen in Pucallpa unter. Töchterchen Amalia Hortensia (Amalita) ist da schon auf der Welt. Eine zweite Schwangerschaft überlebt Amalia leider nicht, ebensowenig wie ihr Ungeborenes.
  • und noch viele viele viele mehr!
Das Buch hat immerhin 630 klein bedruckte Seiten, und das sind bei Weitem - bei Weitem zu viele. Bei aller Liebe zum Autor, aber das war schon sehr anstrengend. Dennoch bin ich dabei geblieben, weil es einfach wirklich gut und stimmungsvoll geschrieben ist. Einige Szenen, die ich besonders beeindruckend fand:
  • In Arequipa bahnen sich Streiks und Unruhen an. Cayo Bermúdez schickt einen Bus voll mit Störenfrieden dorthin, allerdings zu wenige; die gehen unter und werden in einem Theater aufgerieben. Die Vorbereitungen, die hektischen Telefonate, der Stress, dann der eigentliche Tumult im Theater und dessen Folgen sind schon meisterlich beschrieben. Da ist man wirklich live dabei.
  • Santiago stellt seine Braut Ana seiner Familie vor. Nach Monaten der Trennung kommt es wieder zu einem Zusammentreffen im Haus der Zavalas. Die Mutter macht kein Hehl daraus, was sie von der kleinen Krankenschwester hält, die in Wirklichkeit Dienstbotin in ihrem Haus bzw. ihres Sohnes sein könnte. Die angespannte Atmosphäre, die dicke Luft, die Gewitterstimmung, die sich dann plötzlich entlädt: auch hier wieder ganz große Klasse, wie Vargas Llosa das beschreibt.
  • Amalia wurde schon nach der ersten Geburt gesagt, dass sie nicht mehr schwanger werden sollte. Kurz vor der zweiten Geburt merkt sie, dass etwas nicht stimmt und muss ins Krankenhaus. Die Betten und Hängematten im Krankenzimmer sind so dicht beisammen, dass Besucher nur am Fußende Platz finden. Bei einer Operation kann das Kind nicht mehr gerettet werden. Allerdings überlebt auch Amalia nur wenige Stunden. - Sehr gefühlvoll, wie er damit umgeht.
Und so könnte man noch endlos weiter schreiben. 

Mit einer Empfehlung für dieses Buch tue ich mir echt schwer. Einerseits wird eine Situation in einem weit entfernten Land beschrieben, die noch dazu schon einigermaßen weit zurück liegt. Andererseits macht der Schreibstil vieles wett und versöhnt einen wieder mit der Länge und der Komplexität. Durchhaltevermögen wird auf alle Fälle abverlangt!

PS: Wer sich von all dem nicht abschrecken lässt und komplexe Werke von Vargas Llosa mag, dem kann ich auch noch "Das grüne Haus" empfehlen. Musste das Buch damals 2x hintereinander lesen.



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