Montag, 8. Februar 2016

Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft ★★★★★

Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft 


Cover: Random House / btb


In meiner Besprechung des Buches von Ulrich Kühnen "Tierisch kultiviert" hatte ich bereits angekündigt, dass Bücher von Gerd Gigerenzer weit oben auf meiner Wunschliste stünden. Jetzt war es soweit.

Für dieses Buch wird der Autor in nächster Zeit nicht den Literaturnobelpreis bekommen, obwohl es ordentlich und handwerklich gut und zeitweise witzig geschrieben ist. Schade eigentlich.

Die fünf Sterne hat es sich aber durch den Inhalt redlich verdient. Es geht darin um die richtige Einschätzung von Risiken. Gerd Gigerenzer möchte verhindern, dass wir uns vor den falschen Dingen fürchten und hat mit diesem Buch ein aufklärerisches Werk im besten Sinne des Begriffs vorgelegt.

Er ist Psychologe und als Direktor einer Gruppe am Berliner "Max Planck-Institus für Bildungsforschung" viel unterwegs und hält zahlreiche Vorträge rund um die Themen Risiko, Risikobewertung, unsichere Umwelten, Voraussagen und vor allem: Bauchgefühl und Faustregeln.
Das Buch bietet eine derartige Fülle von Inhalten, dass es mir schwer fällt, eine Auswahl zu treffen; ich versuch's einmal mit dieser Aufzählung:
  • Irrationales Verhalten nach Schock-Ereignissen: nach den Anschlägen vom 11. September brach kollektive Flugangst aus und es wurde viel mehr mit dem Auto gefahren statt geflogen. Als Folge davon gab es in den nächsten zwölf Monaten ca. 1600 Verkehrstote mehr auf den Straßen der Vereinigten Staaten, während es keine weiteren Toten im Flugverkehr gab. Tote im Straßenverkehr werden hingegen stillschweigend zur Kenntnis genommen.
  • Relative Steigerungen: Das Britische Kommittee für Arzneimittelsicherheit warnte Ärzte und Bevölkerung, dass die dritte Generation der Pille das Thrombose-Risiko um 100 Prozent steigere. Viele Frauen setzten daraufhin die Pille ab, die Folge waren etwa 13.000 zusätzliche Abtreibungen im nächsten Jahr allein in England und Wales. Allerdings war die Angabe von "100 Prozent" völlig irreführend: statt 1 von 7000 hatten dann 2 von 7000 Frauen das Risiko einer Thrombose. Das klingt dann doch etwas anders, aber so wurde es nicht kommuniziert.
  • Umgang mit Fehlern: in der Luftfahrt ist es üblich, offen über Fehler zu sprechen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen. So hat sich die Fliegerei in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu einem der sichersten Transportmittel entwickelt. In der Medizin wird eher nicht offen darüber diskutiert, ganz im Gegenteil. Das könnte ja am Nimbus der Unfehlbarkeit der weißen Götter kratzen. Zitat eines Luftfahrtmanagers: "Wenn wir in der Luftfahrt mit Fehlern so umgehen würden wie in der Medizin, hätten wir jeden Tag zwei Abstürze!"
  • Sinn und Unsinn von medizinischen Screenings: Zahlreiche Krebstests liefern falsch-positive Ergebnisse in ziemlich großem Ausmaß; in der Mammographie etwa 10%, dh. 1 von 10 Frauen bekommen die Diagnose Brustkrebs, obwohl sie ihn gar nicht haben. Tatsächlich hat nämlich nur ungefähr 1 von 100 Frauen Brustkrebs (ab einem gewissen Alter). Auf seinen Vortragsreisen stellt er immer wieder fest, dass die meisten Ärzte mit diesen Ergebnissen nicht umgehen können (obwohl sie es sollten) und Frauen falsch beraten. Auf mehr Details muss ich leider verzichten, das würde den Rahmen hier sprengen.
  • Ähnliches gilt für den Prostatakrebs, der bei den meisten Männern so langsam verläuft, dass sie völlig symtomfrei zwar mit dem Krebs sterben, aber nicht an ihm - ein wesentlicher Unterschied. Trotzdem läuft in den meisten Fällen die ganze Behandlungs-Maschinerie an, sobald der PSA-Wert ausschlägt.
  • Defensives Entscheiden: Tests sind in der Medizin unter anderem deshalb so beliebt, weil man sich dadurch absichern kann. Ein ganzes Heer von Anwälten würde sich auf die Mediziner stürzen, wenn sie einen Test einmal nicht machen würden. Ganz krass ist die Situation in den USA (im Gegensatz zu Kanada). Ein US-Mediziner hat das so ausgedrückt: "Die Reduktion von medizinischen Tests ist in den USA völlig illusorisch. Wir leben in einer Gesellschaft von Anwälten - von Anwälten für Anwälte gemacht".
  • Sinn und Unsinn von Vorhersagen auf dem Aktienmarkt. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass die gleichmäßige Streuung von Investitionen mindestens genauso gut abschneidet, wie hochgezüchtete Entscheidungs-Software. Diese kann zwar alle bekannten Einfluss-Parameter berücksichtigen, die unbekannten bleiben das natürlich auch weiterhin. Aber gerade sie sind es, die dann aus heiterem Himmel Unruhe ins System bringen. In nicht völlig bekannten (und somit unsicheren) Umwelten können diese Verfahren noch so komplex sein, scheitern werden sie früher oder später doch.

Gerade in unsicheren Umwelten empfiehlt er, sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen und bietet auch zahlreiche Faustregeln und Strategien für alltägliche Probleme an:

Bestellung in einem Restaurant: hier hat er mehrere Strategien auf Lager:
  • komplette Speisekarte durchackern und dann das Beste bestellen (optimieren)
  • sich ungefähr vornehmen, was es sein soll und was es kosten darf und dann das Erstbeste bestellen, das den Kriterien entspricht (erfüllen)
  • schauen, was die anderen bestellen (nachahmen)
  • den Kellner fragen; aber nicht danach, was er empfiehlt, sondern was er selbst bestellen würde
Partnerwahl
  • optimieren/maximieren ist hier nicht möglich. Wenn man das versucht, kommt nie eine Beziehung zustande
  • erfüllen: die Methode, die unausgesprochen/unbewusst am meisten angewendet wird. Ein paar Kriterien zurecht legen und sobald der oder die erste kommt, der/die sie erfüllt, ...
  • auch nachahmen geht hier, das sieht dann so aus: versuche, den oder die zu bekommen, den/die auch die anderen begehren. Kommt angeblich gar nicht so selten vor!
Und so weiter und so fort, die Liste ist wie gesagt nur ein kleiner Auszug an Themen, die er behandelt; schwerpunktmäßig sicherlich medizinische und finanztechnische. 

Besonderes Anliegen sind ihm Bauchgefühl und Entscheiden in unsicheren Umwelten; er möchte uns vor allem von der Meinung wegleiten, dass Bauchentscheidungen unprofessionell wären. Dazu bringt er unter anderem Ergebnisse von Umfragen unter Managern der Industrie, bei denen sich herausstellt, dass der überwiegende Anteil von Entscheidungen nach dem Bauchgefühl getroffen wird!

Im letzten Kapitel schlägt er einige praktische Maßnahmen vor, wie zukünftige Generationen risiko-kompetenter werden können. Die Vorschläge sind nicht hochkomplex, sondern im Gegenteil einfach und wären daher auch einfach umzusetzen. Hier erkennt man den Bildungsexperten, der er ja in erster Linie ist.

Insgesamt also ein hervorragendes Buch, nach dessen Lektüre man die Welt wahrscheinlich mit anderen Augen sieht. Also mir ist es jedenfalls so ergangen. Daher möchte ich es auch wirklich jedem empfehlen und dringend ans Herz legen!

1 Kommentar:

  1. Die echten Fakten über Brustkrebs und Mammografie (Bruströntgen) haben schon lange gezeigt, dass die Früherkennung von "Krebsen" mit Präventionsmaßnahmen (Beispiel: Mammografie) in vielen Fällen wegen Überdiagnosen falsch ist (Mammografie ist meistens Früherkennung von falschen "overdiagnosed" Krebsen und Spätererkennung, nicht Früherkennung, von echten Krebsen) , aber ganz viele Frauen trotzdem behandelt werden. Das Ergebnis is, dass Millionen von Frauen missbehandelt und umgebracht worden sind wegen diesen "fortgeschrittenen" Untersuchungen und medizinischen Behandlungen, und dass Mammografie viel mehr schweren Schaden anrichtet als dass es bedeutendes Gutes bringt (Quellen: Peter Gotzsche's 'Mammography Screening: Truth, Lies and Controversy' and Rolf Hefti's 'The Mammogram Myth' - sehe http://www.supplements-and-health.com/mammograms.html ).

    Jeder der dieses Thema ein wenig genauer anguckt, kann sehen, dass es fast ausschliesslich fabrizierte Statistiken und "wissenschaftliche" Daten/Evidenz vom medizinischen Riesengeschäft sind, die diese Tests unterstützen.

    Das riesige medizinische Krebsgeschäft hat schon jahrzehntelang das Volk angelogen mit falschen Statistiken. Dieses riesengrosse Geschäft sagt den Leuten wie unglaublich "forgeschritten" ihre Präventionsmaßnahmen, Untersuchungen und Behandlungen sind, aber verschweight den grossen Schaden, den sie wirklich anrichten. Es ist fast alles Lüge.

    AntwortenLöschen