Donnerstag, 18. Februar 2016

Thomas Bernhard: Autobiografische Werke ★★★★☆

Um das Gesamtwerk von Thomas Bernhard besser zu verstehen, sind die fünf autobiografischen Werke praktisch ein Muss. Ich hab sie in den letzten vier Wochen gelesen - leider etliche Jahre zu spät, ich hätte früher damit anfangen sollen.

Die Inhalte sind großteils wirklich autobiografisch (ich schätze den Anteil auf etwa 80%), nur ein kleinerer Teil davon ist Fiktion. Wenn er Namen nennt, sind das immer die echten, dh. die erwähnten Personen und Orte gab es wirklich. Nur selten nennt er Personen nicht beim Namen, zB. den "berühmten deutschen Schriftsteller", der in Henndorf wohnt; bei ihm handelt es sich meiner Meinung nach um Carl Zuckmayer (ich weiß es allerdings nicht mit Bestimmtheit).

Die Bücher sind relativ kurz und lesen sich sehr leicht. Er hat sie Mitte der 1970er-Jahre veröffentlicht, da war er bereits ein berühmter Schriftsteller mit großer Erfahrung. Das merkt man diesen Büchern auch an: kein Satz zuviel, keiner zuwenig, jeder sitzt und ist gerade recht.


Cover: dtv




Ich beschreibe die Bücher jetzt in der Reihenfolge, in der sie erschienen sind. Das fünfte Buch (Ein Kind) ist zwar als letztes herausgekommen, in der Chronologie seines Lebens ist es allerdings das erste.

Die Ursache. Eine Andeutung

Die Mutter und ihr Mann (nicht sein leiblicher Vater) sowie seine Großeltern leben noch in Traunstein (Bayern, in der Nähe des Chiemsees), T.B. geht allerdings in Salzburg ins Gymnasium. Unter der Woche lebt er im Internat, an den Wochenenden fährt er nach Hause. Wir schreiben das Jahr 1943, T.B. ist 12 Jahre alt. Sehr eindrucksvoll sind seine Beschreibungen des Lebens im Krieg mit den ersten Bombenangriffen sowie die Flucht in die frisch geschlagenen Stollen in Mönchs- und Kapuzinerberg. Diese Stollen sind nicht belüftet, sodass die Menschen darin zwar vor Bomben geschützt sind, aber viele in der schlechten und verbrauchten Luft ohnmächtig werden oder sogar sterben.

Das Leben im Internat und in der Schule erlebt er als Hölle bzw. Vorhölle auf Erden, drangsaliert von Mitschülern und vor allem vom despotischen Direktor. Nach Ende des Krieges wird der zwar durch einen neuen Nicht-Nazi ersetzt, er wendet aber die gleichen Methoden an wie jener - es hat sich also kaum was verändert.

Mit 15 beschließt er spontan, die Schule abzubrechen und statt dessen eine Lehre bei einem Lebensmittelhändler zu beginnen.

Der Keller. Eine Entziehung

T.B. beschließt spontan, eine Lehre zu beginnen. Er geht eines Morgens nicht mehr zur Schule sondern "in die entgegengesetzte Richtung" (Hervorhebung vom Autor) zum Arbeitsamt. Er besteht darauf, diese Lehre in einer übel beleumundeten Gegend Salzburgs, der Scherzhauserfeldsiedlung, zu machen. Praktisch in jedem Haus dieser Siedlung gibt es jemanden mit einer kriminellen Karriere.

Im Keller, den Lagerräumen des Greißlers Podlaha, fühlt er sich wohl, im Gegensatz zur Schule lebt er hier richtig auf. Mit seinem Lehrherrn kommt er blendend aus, die Arbeit macht ihm Spaß, auch wenn sie körperlich anstrengend ist.

An einem Morgen muss er in der Kälte wieder einmal schwere Säcke schleppen, dabei holt er sich eine "nasse Rippenfellentzündung", die ihn für mehrere Wochen ins Krankenhaus bringt.

Der Atem. Eine Entscheidung

Er kommt gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus, es sieht nicht gut aus. Als er von einer Bewusstlosigkeit erwacht, stellt er fest, dass er nicht in einem Krankenzimmer, sondern im Badezimmer liegt. Hierher werden nur die hoffnungslosen Fälle gebracht, und tatsächlich sterben Nacht für Nacht etliche Patienten.

Später wird er in ein großes Krankenzimmer verlegt, aber auch dort sterben täglich zahlreiche Patienten. Er fühlt sich aber zu jung um zu sterben und beschließt, zu überleben. Dieser eiserne Überlebenswille hilft ihm tatsächlich, so nach und nach erholt er sich wieder. Zeitgleich mit ihm ist auch sein geliebter Großvater in diesem Krankenhaus, der ihn häufig besucht, solange das noch möglich ist. Eines Tages hören diese Besuche auf. Seine Familie klärt ihn nicht auf, sondern er erfährt aus einer Todesanzeige in der Zeitung, dass sein Großvater verstorben ist, während er selbst einen Rückfall erlitt.

Erst nach einigen Wochen wird er als geheilt entlassen. Bevor er zur Reha in die Lungenheilstätte Grafenhof kommt, macht er noch seine Lehrabschlussprüfung.

Die Kälte. Eine Isolation

Die Zustände in Grafenhof (in der Nähe von Bischofshofen) sind eigentlich unbeschreiblich, T.B. tut es aber trotzdem. Diese Passage ist schon sehr starker Tobak. Umgeben von schwer Tuberkulösen marschiert er täglich mit diesen in die Liegehalle, um die Lungen wiederherzustellen. Jeder ist ausgerüstet mit einem großen Gurkenglas, in das die Kranken hineinzuspucken haben; im Laufe des Tages sammelt sich so eine ganze Menge braune Flüssigkeit, die dann im Labor untersucht wird.

Nach Wochen wird er als geheilt entlassen, was sich jedoch als Irrtum herausstellt. Auch er leidet jetzt unter offener Tuberkulose, was ihm einen zweiten Aufenthalt in Grafenhof einbringt. Als sich dort nicht wirklich Fortschritte in der Heilung einstellen, beschließt er, das Lungen-Camp zu verlassen und sich in die Behandlung eines Lungenfacharztes zu begeben.

Das Buch endet ziemlich abrupt und plötzlich, wir erfahren als Leser nicht mehr, wie es ihm weiter ergangen ist. Tatsache ist aber, dass ihm die angegriffene Lunge Zeit seines Lebens zu schaffen machte.

Ein Kind

Um dem Skandal eines unehelichen Kindes zu entgehen, flieht seine Mutter zu einer Freundin in den Niederlanden. Sie nimmt dort Gelegenheitsjobs an und kann sich um ihren neugeborenen Sohn nicht wirklich kümmern. Sie gibt ihn daher zu einer Fischerfamilie in Pflege und besucht ihn dort nur zweimal pro Woche. Diese Familie hat mehrere Kinder in Pflege und legt die diese Kinder in Hängematten, die von der Decke einer Bootskajüte hängen. Er kann also von sich behaupten, dass er sein erstes Lebensjahr nicht am, sondern auf dem Wasser verbracht hat.

Die Familie wechselt häufig den Wohnort: Wien, Seekirchen und später Traunstein (Bayern), weil sein Stiefvater immer auf der Suche nach Arbeit ist; immerhin findet er immer wieder etwas, was in den 1930er-Jahren keine Selbstverständlichkeit ist.

In der Traunsteiner Schule kann er sich nicht recht integrieren, er findet dort keine Freunde und wird zum Gespött seiner Mitschüler. Seine Mutter ist auch nicht wirklich hilfreich. Da er Bettnässer ist, hängt sie jeden Tag das nasse Bettzeug für alle sichtbar auf. Überhaupt macht ihm seine Mutter ständig Vorwürfe, dass er ihr Leben zerstört hat, dass sie ihn zum Teufel wünscht und dass er seinem Vater so ähnlich sieht. Ihm ist bewusst, dass sie nicht ihn, sondern seinen Vater bestrafen möchte. Als er eines Tages eine Fotografie von seinem Vater findet, reißt sie ihm diese sofort aus den Händen und verbrennt sie.

1942 wird er im Sommer in ein Erziehungslager nach "Saalfelden" geschickt - zumindest glauben das alle. Auf dem Schild, das er um den Hals trägt, steht allerdings nicht "Saalfelden", sondern "Saalfeld" - und so kommt es, dass er diesen Sommer in Thüringen verbringt. Erst als die Kinder eine Woche nach Ankunft in Saalfeld eine Postkarte nach Hause schicken, erfährt die Familie von diesem Irrtum. Diesen Fehler verzeiht T.B. seiner Familie lebenslang nicht. Auch in diesem Lager ist er Bettnässer, auch hier wird dieser Umstand für alle sichtbar gemacht, was nicht unbedingt zur Heilung beiträgt.

Nach diesem Aufenthalt macht er die Aufnahmsprüfung in einer Handelsakademie in Passau, die er auch glänzend besteht, wirklich hin möchte er aber dort nicht. Da trifft es sich gut, dass sein Großvater inzwischen beschlossen hat, das Kind nicht nach Passau, sondern nach Salzburg ins Gymnasium zu schicken.

Hier schließt sich der Kreis, und die Handlung von "Die Ursache" setzt ein.

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Wie schon erwähnt, plagt ihn die Lungenkrankheit sein restliches Leben lang. Seinen Aufenthalt auf der Baumgartner Höhe verarbeitet er im Roman "Wittgensteins Neffe". Dieses Werk gehe ich als nächstes an, diesmal (erstmals) als Hörbuch. Über diese Erfahrungen werde ich dann aber gesondert berichten.

Jedenfalls haben mich diese Bücher neugierig gemacht, und so ist eine kürzlich erschienene Biografie von Manfred Mittermayer bereits auf meiner Wunschliste. Was ich so höre und lese, ist sie wirklich gelungen und bietet einen schönen Vergleich zwischen Realität und Fiktion.

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