Samstag, 10. Februar 2024

Sebastian Barry: Tage ohne Ende ★★★★★

Sebastian Barry: Tage ohne Ende  ★★★★★

Cover: Steidl Verlag

In den Western-Filmen kämpfen Cowboys und Indianer; meist gegeneinander, oft untereinander. Aber sie behandeln in den meisten Fällen nur Einzelereignisse. Nur wenige – und gute – Ausnahmen beschäftigen sich mit dem Thema "Landnahme der Weißen im Westen" und allen Problemen, die damit in Zusammenhang stehen. Einer, der sich damit eingehender auseinander setzte, war "Der mit dem Wolf tanzt". Super Film, nur leider viel zu lang.

In diesem Buch hier von Sebastian Barry wird hingegen ganz genau hingeschaut. Der Autor lässt seine beiden Protagonisten die Zeit durchleben, die von den Indianerkriegen über den USA-Bürgerkrieg bis in die Nachkriegszeit reicht und sich etwa 1850 bis 1870 erstreckt.

Die Sprache und Erzählweise sind dabei so mitreißend, dass man das Buch kaum zur Seite legen kann: Mittendrin, statt nur dabei!


Der Ich-Erzähler Thomas McNulty stammt aus Irland und musste seine Heimat wegen des Großen Hungers und der Hoffnungslosigkeit verlassen. Diese seine Vorgeschichte war für mich mehrfach ein Déjà-vu, weil wir ja erst im Vorjahr in Irland waren und die Erinnerung an diese Hunger-Katastrophe dort nach wie vor allgegenwärtig ist. Außerdem stammt er aus Sligo, das wir auf unserer Rundreise ebenfalls besuchten.

In Kanada, wo er zunächst landet, ist er unerwünscht, also schlägt er sich nach Süden in die USA durch. Irgendwann trifft er John Cole; irgendwie stimmt die Chemie zwischen den beiden und sie bleiben fortan unzertrennlich.

Als halbe Kinder treten sie in Saloons in selbst kreierten Revuen auf, bis sie aus sämtlichen Kleidern herauswachsen und ihre Theaterkarriere beenden müssen.

Was nun? Ach ja, die Armee nimmt immer wieder Leute auf. Die USA sind gerade dabei, den Westen zu erobern und zu besiedeln. Endlose Trecks ziehen ins gelobte Land, das Militär hat die Aufgabe, sie zu beschützen bzw. das Land überhaupt erst einmal in Besitz zu nehmen.

Gar nicht so einfach, wenn es schon besiedelt ist; aber nicht durch Weiße, sondern von Indianern, die hier seit Jahrtausenden leben.

Ihren Vorvätern gehörte hier einst alles, von uns hatten sie nicht mal gewusst. Jetzt streifen hunderttausend Iren durchs Land, Chinesen fliehen vor ihren grausamen Kaisern hierher, Holländer und Deutsche und im Osten geborene Jungs. Strömen über die Trails hinein wie eine endlose Herde.

[Ich bleibe bei der Bezeichnung "Indianer", die sowohl damals als auch im Buch verwendet wird]

Die Folgen sind bekannt, die Brutalität dieses Kampfes und der Vertreibung weniger. Das Buch räumt mit der Verharmlosung und Verklärung radikal auf. Die Personen mögen fiktional sein, einzelne Ereignisse nicht. So wird das Grattan-Massaker zwar nicht namentlich genannt; aber Zeit und Umstände des im Buch geschilderten Kampfes sind so genau recherchiert und beschrieben, dass klar ist, wovon die Rede ist. Gleiches gilt für Schlacht von Ash Hollow, die ebenfalls im Buch vorkommt.

Lager im Winter bei klirrender Kälte und Blizzards, Märsche in der Hitze, endlose Prärien, in denen bereits jeder Grashalm abgeknabbert ist, und natürlich die militärischen Auseinandersetzungen: All das wird im Präsens erzählt, sodass man als Leser das Ganze unmittelbar miterlebt. Wie schon erwähnt: Mittendrin, statt nur dabei.

John und Thomas überleben diese Zeit und verlassen die Armee. Aber nur kurz, denn jetzt ist das junge Gebilde USA am Zerbrechen: Nord und Süd bekämpfen einander vier lange Jahre in einem erbitterten Bürgerkrieg. Die Jungs nehmen auf Seiten der Union (Norden) daran teil, bis zum Sieg der Union über die Konföderierten. 

Mit diesem Sieg bzw. Niederlage ist der Krieg aber lange noch nicht beendet. Ein befreundeter Soldat erbt die Farm seines Vaters in Tennessee, einem Staat des Südens; Tom und John möchten bei ihm mit anpacken und dort ein neues Leben beginnen. Schon auf der Reise dorthin wird ihnen klar, dass sich die Einstellung der Südstaatler den Schwarzen gegenüber nicht im geringsten verändert hat. Überall treffen sie auf erhängte Schwarze mit einer Tafel um den Hals mit der zynischen Aufschrift "frei". Aber auch auf der Farm selbst ist noch keine Ruhe eingekehrt; dort arbeiten Schwarze als (diesmal bezahlte) Bedienstete, was schon ausreicht, dass die Farm immer wieder von bewaffneten Banden bedrängt und in Kämpfe verwickelt wird.

Ich kann hier natürlich nicht alles wiedergeben, aber letztlich geht das Ganze für Tom, den Erzähler, doch gut zu Ende. Klar, sonst könnte er ja nicht rückblickend darüber berichten.

Wie und was er berichtet, war für mich einerseits ziemlich erhellend, andererseits aber wahnsinnig verstörend und erschütternd. Natürlich wusste ich vorher auch schon von den Indianerkriegen, natürlich wusste ich schon vom Bürgerkrieg. Aber das waren meist nur oberflächliche Erzählungen, garniert mit ein paar Jahreszahlen, doch hier erlebt man das alles ganz tief und intensiv mit.

Ich sehe diese Zeit und ihre Geschehnisse jetzt ganz sicher mit anderen Augen. Die Bilder, die dieses Buch erzeugt, bekommt man nicht mehr aus dem Kopf.

Ich denke, das ist das Beste, was man über so ein Buch sagen kann. Absolute Leseempfehlung!


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