Samstag, 17. Februar 2024

Lea Ypi: Frei ★★★★★

Lea Ypi: Frei  ★★★★★

Cover: Suhrkamp

Es kommt nicht oft vor, dass ich für ein Buch mehr als fünf Sterne vergeben möchte. Das hier ist so eins!

Eines der besten Bücher der letzten Monate und definitiv die beste Autobiografie, die ich je in der Hand hatte!

Lea Ypi (*1979) ist in Albanien aufgewachsen. Das war noch die Zeit, als das Land völlig abgeschottet vom Rest der Welt war: Vom bösen kapitalistischen Westen natürlich, später sogar von Jugoslawien, der Sowjetunion und China. 

In der Schule musste sie jedes Jahr erklären, dass die Namensgleichheit mit dem faschistischen Ministerpräsidenten Xhafer Ypi, der seinerzeit Mussolini und die Faschisten Albanien übernehmen ließ, rein zufällig war und er mit ihrer Familie rein gar nichts zu tun hätte.

Andererseits gehörte ihre Familie nicht gerade zu den glühenden Verehrern von Onkel Enver Hoxha (so wurde er allgemein genannt); wenn es in der Familie um Vergangenheit und Verwandtschaft ging, wurde sehr oft geheimnisvoll herumgedruckst. 

Als dann 1990 die Wende in Albanien ankam, wurde sie endlich aufgeklärt.


Die Zeit davor, die Wende selbst und was dann danach kam, erzählt sie in diesem Buch: sehr ausführlich, aus dem Leben gegriffen und vor allem authentisch! Es hat sich alles genau so abgespielt, wie im Buch beschrieben. Sie schreibt deshalb auch im Dankeswort:

Ich danke meiner Mutter Doli und meinem Bruder Lani für ihre Bereitschaft, sich gemeinsam mit mir an diese Vergangenheit zu erinnern, für ihre Erlaubnis, ihre Geschichten in meine Worte zu fassen, und dafür, dass sie immer die Wahrheit gesagt haben.


Achtung Spoiler-Alarm! Wer sich die Überraschung nicht verderben lassen möchte, sollte jetzt vielleicht aufhören zu lesen.


Vor der Wende war das Leben vor allem von Mangel, Lebensmittelmarken und Warteschlangen bestimmt. Zu welchen skurrilen Szenen und Verbiegungen es da kam, beschreibt sie mit einer gewissen Portion Humor und vor allem Lebendigkeit. Für uns unvorstellbar, dass eine Sammlung von Kaugummifolien für eine Schülerin sehr wertvoll ist und sie sie leider an einen bösartigen Mitschüler verliert, der die unbedingt haben wollte.  Oder dass eine leere (!) Cola-Dose ein derartiges Statussymbol ist, dass sie auf den Fernseher gestellt wird, unterlegt vom schönsten gehäkelten Deckchen, gleich neben dem Foto von Onkel Enver. Ähh, dieses Foto gibt es in dieser Familie nicht. Alle anderen haben eins, diese nicht. Schon wieder sehr seltsam.

Als das Regime 1990 endlich gestürzt wurde – Albanien war als letztes der Ostblockländer dran – konnten Eltern und Großmutter endlich offen mit Lea reden. Davor wäre es einfach zu gefährlich gewesen.

So erfährt sie also, dass der Urgroßvater selbstverständlich jener Ministerpräsident war, dessen Verwandtschaft sie jahrelang abstreiten musste. Dass dessen Sohn (Leas Großvater) deshalb 15 Jahre politischer Gefangener war; dass die Familie eine der vielen war, die in einer Stadt angesiedelt wurde, in der viele unliebsame Dissidenten und Klassenfeinde versammelt wurden. Dass auch die Familie ihrer Mutter dorthin verbracht wurde, weil sie großen Landbesitz, Industriewerke und Schiffe besaß. Und dass sich ihre Eltern genau deswegen dort auch kennengelernt haben.

Um klein Lea nicht in Verlegenheit und die gesamte Familie nicht in Gefahr zu bringen, wurde über diese Zeit nur verklausuliert gesprochen. Erst jetzt konnte sie darüber aufgeklärt werden, erst jetzt bekamen die 15 Jahre Studium (samt Abschluss) ihres Großvaters eine ganz andere Bedeutung:

Wenn meine Eltern über die Abschlüsse von Verwandten gesprochen hatten, meinten sie damit deren Entlassung aus dem Gefängnis. Der Abschluss war ein Geheimcode für die absolvierte Haftstrafe. Die Anfangsbuchstaben der vermeintlichen Universitätsstädte bezeichneten in Wahrheit die verschiedenen Gefängnisse und Straflager: B. für Burrel, M. für Maliq und S. für Spaç. Und die unterschiedlichen Studienfächer entsprachen der offiziellen Anklage: Internationale Beziehungen stand für Landesverrat, Literatur für »Agitation und Propaganda« und ein Abschluss in Wirtschaft bezeichnete kleinere Vergehen wie »Gold verstecken«. Studenten, die selbst zu Dozenten wurden, waren ehemalige Gefangene, die andere bespitzelten, wie unser Cousin Ahmet und seine verstorbene Frau Sonia. [...] Ausschluss vom Unterricht bedeutete die Todesstrafe; und ein freiwilliger Studienabbruch wie der des besten Freundes meines Großvaters in Paris stand für Selbstmord.

Mit der Wende setzte eine ungeheure Auswanderungswelle ein. Es dauerte aber nicht lange, bis die Zielländer niemanden mehr aufnahmen. Da waren sie wieder: Die Grenzen und die Grenzbeamten. Diesmal aber nicht die albanischen, sondern die ausländischen. 

Das Schiff Vlora beispielsweise wurde von Auswanderungswilligen gestürmt und der Kapitän gezwungen, Richtung Italien auszulaufen – obwohl der Hauptmotor in Reparatur war. In Italien wurden diese 20.000 (!) Menschen zunächst zwei Wochen in einem Stadion interniert, bevor sie wieder geschlossen zurückgeschickt wurden. Diese Episode wird im Buch ausführlich beschrieben, weil auch Lea etliche Leute kannte, die es mit der Vlora versuchten. 

Man kann kaum glauben, was man auf diesen Bildern sieht!


Das Land kippte von einem Extrem ins andere: Von völliger Isolation zur totalen Liberalisierung. Massenarbeitslosigkeit war nur ein Aspekt, den wir auch von anderen Ländern nach der Wende kennen.

Was aber besonders brutal und folgenreich war, waren die Pyramidensysteme (genauer: Ponzi-Schemata), die aberwitzige Zinsrenditen versprachen. Die Leute waren Investitionen nicht gewohnt und veranlagten ihr Vermögen massenhaft in diese "Firmen". Nach deren Zusammenbruch verlor etwa ein Drittel der Bevölkerung sämtliche Ersparnisse und sonstiges Vermögen. Leas Familie verlor ihre Ersparnisse, der Vorsicht ihres Vaters ist es aber zu verdanken, dass sie zumindest das Haus behielt.

Ein Bürgerkrieg war die Folge. Aufständische plünderten Geschäfte und vor allem militärische Anlagen. Plötzlich zirkulierten Unmengen Waffen und Munition im Land. Erst ausländische (Militär-) Berater und militärisches Eingreifen unter Aufsicht der UNO versetzten die Regierung in die Lage, wieder Ruhe reinzubringen.

Im Zuge dieser Wirrnisse sprang Leas Mutter mit ihrem Sohn auf ein Schiff und verschwand Richtung Italien, wo sie so recht und schlecht bleiben konnte. Leas Vater war außer sich, denn die Aktion war in der Familie nicht abgesprochen. Die Familie blieb zerrissen.

Heute ist Lea Ypi eine gefragte Philosophin und lehrt und forscht an der renommierten London School of Economics – ausgerechnet zu Marx und Marxismus. Das wurde in ihrer Familie nicht gleich verstanden. Aber ihr Argument ist (ganz grob): Sie hat beide Extreme (Marxismus und Liberalismus) erlebt. Es muss doch noch etwas dazwischen geben, und wenn man Marx richtig liest, kann ihrer Meinung nach bei ihm der Schlüssel zur Lösung vieler gesellschaftlichen Probleme liegen.

Wie auch immer. In meinen Augen ist sie eine wirklich beeindruckende Frau, die wirklich viel erlebt und durchgemacht hat und trotz allem eine fantastische akademische Karriere vorzuweisen hat.  

Jetzt, angekommen in ruhigeren Fahrwassern, hat sie eine ebenso beeindruckende Autobiografie geliefert. Wie gesagt, die beste, die ich je lesen durfte.

* * * * *

Im Wikipedia-Artikel sind zwei längere Interviews verlinkt:

  • In diesem Video besucht sie noch einmal ihre Heimat, das Interview findet sogar in ihrem Elternhaus statt. Es werden immer wieder Szenen aus dem heutigen Albanien eingestreut.
  • Dieses Interview halte ich für besser und tiefgreifender, außerdem sind ein paar Videoschnippsel eingearbeitet; unter anderem über das Schiff Vlora und eine kurze Aufnahme mit klein Lea selbst!


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