Dienstag, 2. März 2021

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise ★★★★☆

 Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise  ★★★★☆


Cover: Luchterhand


Jan Kraus lebt in Berlin und ist Altenpfleger. Seine Schützlinge betrachtet er als "Matrosen, die von ihrer letzten Überfahrt nicht mehr zurückkehren".

Sein nächster Matrose ist Welzel Winterberg, und dem geht es wirklich nicht gut. Er ist 99 Jahre alt und döst nach mehreren schweren Schlaganfällen in seinem Bett vor sich hin. Jan Kraus macht das, was er in solchen Fällen immer macht: Er liest seinem Matrosen aus seinem uralten Duden vor und wartet auf Reaktionen. Im Fall von Winterberg äußerst erfolgreich! So erfolgreich, dass der alte Herr komplett wiederhergestellt und voller Tatendrang ist!

Er hat noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen. 1938 musste er sich zwangsweise von seiner großen Liebe Lenka Morgenstern trennen. Auf dem Bahnhof der tschechischen Stadt Reichenberg (Liberec) sah er sie zum letzten Mal. Sie machte sich auf die Reise nach Palästina, er wurde kurz darauf in die Wehrmacht eingezogen.

Lenka schickte von jeder größeren Station eine Ansichtskarte an ihren Wenzel in Reichenberg; aus Sarajewo kam die letzte, danach folgte keine mehr. Winterberg ist überzeugt davon, dass Lenka in Sarajewo ermordert wurde. Und er muss den Mörder finden, fast 80 Jahre danach.

Und so machen sich der alte Mann und sein Pfleger auf die Reise quer durch Mittel- und Südeuropa. Per Bahn, wohlgemerkt, denn erstens fährt Herr Winterberg nur sehr ungern mit dem Auto und außerdem ist er in Sachen Eisenbahn ein absoluter Experte!

Begleiten wir also die beiden auf einer irren, melancholischen, witzigen, detailreichen, historiengetränkten, nervenaufreibenden, architekturreichen, politischen Fahrt mit der Bahn!


Winterberg ist nicht nur Experte für das Bahnwesen, sondern er ist auch ein solcher in Geschichte. Daher ist ihre erste Station Königgrätz (Hradec Králové). Die Schlacht in der Nähe dieser Stadt hat 1866 nicht nur Österreich vom Rest Deutschlands mehr oder weniger abgeschnitten, sondern sie schnitt auch direkt durch Winterbergs Familie. Zwei seiner Urgroßväter sind in dieser Schlacht gefallen; einer kämpfte auf preußischer Seite, der andere auf österreichischer; gemeinsam ist ihnen ein Grabmal im Wald von Königgrätz. Winterberg leitet nahezu jedes Unheil dieser Welt auf diese Schlacht zurück.

Klar, dass sie sich danach in Wien gleich mehrere Tage aufhalten, denn im Heeresgeschichtlichen Museum gibt es erstens das Monumentalgemälde "Die Batterie der Toten" von Václav Sochor, das eine Szene aus dieser Schlacht abbildet. Und zweitens sind dort das Auto, die Kleidung und die Uniform des Thronfolgerpaares ausgestellt, das im Juni 1918 in Sarajewo erschossen wurde. Und Sarajewo ist ja auch das Ziel unserer Reisenden. Nicht zu vergessen, drittens, das Grabmal für Carl Ritter von Ghega, dem es gelungen ist, die "Alpen zu überschienen".

Bevor sie aber überhaupt nach Wien fahren, machen sie zunächst in Reichenberg Halt. Klar, das ist Winterbergs Heimatstadt, hier kennt er sich aus, obwohl er seit Ende des Krieges nicht mehr hier war. Besonders wichtig ist ihm die dortige Feuerhalle. Sie war die erste und einzige der alten Donaumonarchie, denn die katholischen Habsburger sperrten sich vehement gegen die Feuerbestattung. Ende Oktober 1918 wurde sie eröffnet, da war die Monarchie aber schon am Zusammenbruch und die Republik Tschechoslowakei war gerade erst geboren. Aber vor allem war Winterbergs Vater der Betreiber dieser Feuerhalle ("nein, es heißt Feuerhalle und nicht Krematorium"). Er war, obwohl Deutscher, ein glühender Verehrer der neuen Republik, was ihm 20 Jahre später zum Verhängnis wurde: Als er sie beim Bier wieder einmal lebhaft verteidigte, erschlug ihn ein tschechischer Nazi mit einem Bierkrug.



Kleiner, sehr persönlicher Einschub

Wenzel Winterberg berichtet, dass bei der Eröffnung der Feuerhalle als auch bei der Trauerfeier für seinen Vater jeweils das Vorspiel aus Richard Wagners Parsifal gespielt wurde.

Das war für mich eine sehr besondere und sehr persönliche Stelle im Buch. Denn auch beim Begräbnis meines Vaters ließ ich genau jene Parsifal-Overtüre spielen. Sie passt meiner Meinung nach ganz hervorragend dafür. Die Musik ist zu Beginn getragen aber nicht zu wuchtig. Etwa die letzte Minute wird sie immer leiser, höher und luftiger und löst sich schließlich im Nichts auf. Großartiges Stück Musik!


Vorspiel aus Parsifal



In manchen Städten müssen sie übernachten und sind daher auf Hotels angewiesen. Die Suche danach ist aber jedesmal ein kleines Abenteuer, denn Herr Winterberg verlässt sich auf die Angaben seines Baedekers aus dem Jahr 1913! Da sind neben genauen Angaben der Garnisonsstärke auch Hotels genannt, aber natürlich gibt es einige davon mehr als 100 Jahre später nicht mehr. Es ist aber erstaunlich, wie viele es doch noch gibt!

Es würde zu weit führen, sämtliche ihrer Stationen und Fahrten hier anzugeben. So witzig und informativ das Buch auch ist, aber der Autor hätte hier ein wenig kürzen müssen. Es war sicher sehr mühsam, all das zu recherchieren, und ich verstehe auch, dass er all das unterbringen wollte; aber nach der zig-sten Nebenstrecke wird es einfach ein wenig ermüdend.

Insgesamt war das Buch wirklich interessant und unterhaltsam; hat großen Spaß gemacht, es zu lesen!


* * * * * * *

Was in Sarajewo wirklich passiert ist und warum Wenzel Winterberg in Berlin hängen blieb, wird hier natürlich nicht verraten. 

Genausowenig, warum und seit wann Jan Kraus in  Deutschland lebt, wo er doch gebürtiger Tscheche aus Winterberg (Vimperg) ist! Zumindest hier nicht. Aber wenn man die nun kommenden Bilder überspringt, folgt ein kleiner Spoiler, denn zu diesem Thema hat der Autor ein historisches Ereignis aus der jüngeren Zeit als Vorbild genommen.


Die Feuerhalle in Reichenberg
Quelle:  ŠJů, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Rathaus in Pilsen.

Detail des Rathauses



In Budweis sind sie nur umgestiegen


Die Brauerei haben die beiden Bierliebhaber nicht besucht


In Budapest besuchten sie den Friedhof Kerepes mit seinen monumentalen Grabmälern für Ungarns Nationalhelden
Hier für Lajos Kossuth


Und hier für Lajos Batthyány
2014 waren wir ebenfalls dort, ich hab damals einige Denkmäler näher beschrieben.



Zum Bahnhof Semmering mit seinem Denkmal für Carl Ritter von Ghega haben sie es nicht mehr geschafft.


Spoiler



Flucht von Jan Kraus in den Westen

Der Autor versetzt diese Flucht in das Jahr 1986, tatsächlich stattgefunden hat sie aber bereits 1972.

Eine Gruppe junger Tschechen hält das strenge Regime, das seit dem Einmarsch der Sowjets 1968 herrscht, nicht mehr aus. Sie beschließen, per Flugzeugentführung in den Westen zu fliehen.
Sie kamen zwar in Weiden (Oberpfalz) an, wurden aber dort sofort verhaftet. In einem Handgemenge während des Fluges löste sich ein Schuss aus einer Pistole und traf den Kapitän tödlich.

Erst Jahrzehnte später konnte ein tschechischer Journalist aufdecken, dass es tatsächlich ein Unfall und kein Mord war. Nicht nur das, sondern auch, dass die wirkliche Aufklärung von der deutschen Justiz und dem tschechischen Geheimdienst massiv in die falsche Richtung gelenkt wurde.

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