Mittwoch, 10. Februar 2021

Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand ★★★★☆

Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand  ★★★★☆


Cover: Kiepenheuer & Witsch

Ein Krimi schafft es selten in diese Rubrik. Wobei: Ist das überhaupt ein Krimi? Ist es eine Doku? Wohl beides, wobei es dem Autor Wolfgang Schorlau wahrscheinlich eher um Zweiteres geht.

Wie schon in seinen früheren Büchern mit dem Privatdetektiv Georg Dengler nimmt er sich auch hier ein Geschehnis der Vergangenheit her, bei dem nicht alle Fragen restlos geklärt wurden. Diese Lücken füllt er dann entweder mit Ergebnissen eigener Nachforschungen oder – wenn das nicht möglich ist – mit Fiktion. Getreu seinem Motto: "Finden und erfinden".

In diesem Buch nimmt er sich den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) vor. Nach etlichen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und einem jahrelangen Prozess sind immer noch Fragen offen. Ja, es gibt ein Urteil für Beate ZschäpeUwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sind tot. Aber sonst klafft dieser Fall mit seinen zahlreichen Fragen wie eine offene Wunde in der jüngsten deutschen Geschichte.

Wolfgang Schorlau behandelt viele dieser Fragen in diesem Buch, besonders konzentriert er sich aber auf diese eine:

Stimmt die offizielle Version, dass nach einem Banküberfall die beiden Uwes in einem Wohnmobil Selbstmord begingen und vorher noch dieses Wohnmobil in Brand steckten?

Ich greife vor. Meiner Meinung nach gelingt ihm sehr überzeugend, diese Frage verneinen zu können. Dennoch bleibt auch nach zahlreichen Untersuchungen die offizielle Darstellung dabei, dass es genau so geschehen ist, wie oben beschrieben.

Ich neige nicht zu Verschwörungstheorien, aber dass es hier noch Aufklärungsbedarf gibt, steht für mich fest.


Wolfgang Schorlau hat sich wirklich viel Mühe gemacht und Material zusammengetragen, soweit es eben öffentlich zugänglich ist. 2015, als die erste Auflage dieses Buches erschien, konnte er also bereits Argumente vorbringen, die durch Dokumente gut fundiert waren. Die wichtigsten in dieser Fragen sind:

  • Die Totenflecken können nicht mit der Auffindungslage der beiden Leichen im Wohnmobil in Einklang gebracht werden. Mit anderen Worten: So, wie die beiden aufgefunden wurden, hätten die Totenflecken an anderen Stellen der Körper auftreten müssen.
  • Die beiden kamen durch Schüsse aus einer Pumpgun in den Kopf ums Leben, bei dem der Großteil der Hirnmasse herausgeschleudert wird. Im ganzen Wohnmobil hätte sich also überall diese Masse finden müssen. War aber nicht der Fall, diesbezüglich war der Innenraum vollkommen sauber.
  • Die Tatwaffe für diesen erweiterten Selbstmord (Uwe Mundlos tötet Uwe Böhnhardt und dann sich selbst) – also besagte Pumpgun – ist vollkommen frei von Fingerabdrücken.
Der Autor kommt also zum Schluss, dass der Tatort in Eisenach komplett inszeniert war. Dafür sprechen auch die Maßnahmen, die in weiterer Folge gesetzt wurden und die im Buch ausführlich geschildert werden. Diesmal gibt es auch einen sehr ausführlichen Anhang, in dem die Argumente und Schlussfolgerungen ausführlich dargelegt werden – mit zahlreichen Fotos, auch rund ums Wohnmobil!

Starke Ansage. 

Weil aber die offizielle Erzählung immer noch anders lautet, wurde sein Buch auch prompt in die Ecke der Verschwörungstheorien gestellt. Tanjev Schultz erhob Anfang 2016 genau diesen Vorwurf in der Süddeutschen Zeitung. Darauf reagierte Wolfgang Schorlau in der zweiten Auflage des Taschenbuches; dort wirft er Tanjev Schultz wiederum vor, das Buch zu verdammen, ohne auf ein einziges Argument einzugehen, das darinnen vorgebracht wird. Wenn man diesen Artikel in der SZ liest, muss man Wolfgang Schorlau einfach zustimmen.

Der Fall ist voll von Besonderheiten. So wurden in der Zentrale des Bundesverfassungsschutzes in Köln massenweise Akten rund um den NSU vernichtet; manche Untersuchungsberichte sind mit einer Sperrfrist von 120 (!) Jahren belegt; was macht der V-Mann des Verfassungsschutzes Andreas Temme am Tatort Internet-Cafe in Kassel; warum waren ausländische Dienste in der Nähe, als die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn erschossen wurde? Und und und.

Das Buch ist aber eben nicht nur Doku, sondern großteils Fiktion. Das betrifft vor allem die Geschichte, wie Georg Dengler überhaupt mit dieser Thematik in Berührung kommt, wie er an die Daten herangekommen ist und was er und sein Team in weiterer Folge damit machen. Dem Leser wird es aber nirgends schwer gemacht, Realwelt und Fiktion zu unterscheiden, das ist immer ganz klar.

Insgesamt ist also ein Buch entstanden, das einen einigermaßen verdutzt zurücklässt. 
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Nach "Die blaue Liste", "Das dunkle Schweigen" und "Das München-Komplott" also wieder ein starkes Werk dieses bemerkenswerten Autors. Nach meinem Empfinden sein bisher wichtigstes.


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