Mittwoch, 22. April 2020

Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb ★★★★☆

Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb 


Cover: Heyne


Eine Weile lang hab ich jeden Monat einen Post veröffentlicht, der die vergangenen Wochen noch einmal Revue passieren ließ. Im Sinne von "Was bleibt übrig, wenn man von den Nachrichten eines Monats nur das Wichtigste hervorhebt?" hab ich diese Posts folgerichtig "Was vom Tage übrig blieb" genannt, wobei ich mich des Titels dieses Romans bedient hab, weil er mir dafür recht passend erschien.

Tatsächlich ist der Buchtitel aber ganz anders zu verstehen, nämlich im Sinne von "jetzt neigt der Tag sich seinem Ende zu, was wird wohl in dem Teil passieren, der jetzt noch übrig ist?"

Diese Frage stellt sich Mr. Stevens zum Ende einer mehrtägigen Fahrt durch den Südwesten Englands. Sein ganzes bisheriges Leben war er der Butler im hoch angesehen Haus Darlington Hall; und diese Aufgabe ließ ihm bis dahin keine Zeit, über solche Fragen nachzudenken. Er war einfach immer zu Diensten seines Auftraggebers Lord Darlington. Wie sehr, das erzählt Kazuo Ishiguro in diesem sehr einfühlsam und  "very british" geschriebenen Roman.

Denn der Autor ist zwar in Japan geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in England. Dort hat er die Sprache und das Sprechverhalten offenbar derart gut verinnerlicht, dass ihm ein derartiger Roman gelungen ist. Immerhin hat er dafür den Booker Prize bekommen und 2017 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet!

Der Inhalt des Buches ist in der Wikipedia sehr gut beschrieben, ich möchte hier nur noch ein paar eigene Gedanken ergänzen.

Kazuo Ishiguro beschreibt Mr. Stevens (seinen Vornamen erfahren wir nie) als einen stocksteifen, überkorrekten Butler, wie man sich das immer schon vorgestellt hat. Perfekt gekleidet, Schuhe mit einer Politur behandelt, deren Marke von Butlermund zu Butlermund weiterempfohlen wird. Steht einerseits stets im Hintergrund, immer auf Abruf bereit. Andererseits gehört er zum stummen und gehörlosen Mobiliar, das von seiner Lordschaft sogar bei den allergeheimsten Treffen nicht aus dem Raum gebeten wird. Gefühle kennt er kaum, und wenn doch, dann lässt er sich das nicht anmerken. Wenn es heikel wird, spricht er sogar von sich selbst in der dritten Person.

Etwa als sich seine Kollegin, die Haushälterin Miss Kenton, bei ihm beschwert, weil er zwei tüchtige Mädchen entlassen hat, nur weil sie Jüdinnen sind:
»Natürlich hat man die Entlassungen missbilligt. Man hätte doch gedacht, das sei offenkundig gewesen.«
Diese Entlassungen gingen Mr. Stevens also selbst gegen den Strich. Aber er ist seinem Arbeitgeber kompromisslos ergeben und zieht Befehle – so wie diesen – ohne wenn und aber durch. Lord Darlington ist ein Verfechter der britischen Appeasement-Politik und möchte unbedingt das britische und französiche Verhältnis zu Deutschland verbessern. Dabei legt er sich sogar mit den englischen Faschisten ins Bett und organisiert mehrere Treffen mit Joachim von Ribbentrop, der in den 1930er-Jahren deutscher Botschafter in UK war. Erst als im Krieg sein Patensohn fällt, wird Lord Darlington klar, dass er sich politisch völlig verrannt hat.

Interessant fand ich den Aspekt, dass seine Lordschaft die Demokratie als veraltet ansah und die Lösung der großen Probleme der Menschheit (vor allem nach dem ersten Weltkrieg) nur den faschistischen Regimen in Deutschland und Italien mit ihren starken Führern zutraute. Die Briten hatten bereits eine jahrhundertelange demokratische Geschichte, während die Demokratie auf dem Kontinent grade einmal erste Gehversuche unternahm (Weimarer Republik oder Erste Republik in Österreich). Wie wir wissen, blieb es bei den Gehversuchen. Aber aus seiner Sicht war Demokratie eben alt.

Aber auch diesen Aspekt hat Mr. Stevens verinnerlicht. Er verteidigt seine Lordschaft auch dann noch, als ihn ein junger Freund des Hauses auf dessen Lebensirrtum aufmerksam macht. 
"Verzeihen Sie, Sir, aber ich muss sagen, dass ich volles Vertrauen in das Urteilsvermögen seiner Lordschaft habe."
Auf seiner Reise durch den Westen trifft er auf einen engagierten Landpolitiker, der natürlich stolz darauf ist, Demokrat zu sein und auf die Menschrechte und -würde hinweist. 

Würde. Auch so ein zentraler Begriff, der immer wieder durch das Buch geistert und im vorderen Teil eigentlich recht viel Platz einnimmt. Mr. Stevens erklärt das Berufsethos "was einen wirklich guten Butler ausmacht" hauptsächlich mit "Würde". 

Damit auch der Humor nicht zu kurz kommt, lässt der Autor Mr. Stevens die Geschichte des englischen Butlers erzählen, der in Indien unter dem Esstisch plötzlich einen leibhaftigen Tiger entdeckt. Der Butler borgt sich von seinem Herrn ein passendes Gewehr aus und entsorgt den Tiger diskret. Die Gesellschaft, die kurz darauf das Esszimmer betritt, hat von dem allen absolut nichts mitbekommen. Das, meint Mr. Stevens, ist ein vorbildliches Verhalten eines wirklich guten Butlers: Still, diskret, immer seinem Hausherrn zu Diensten.

Zurück zu Miss Kenton. Ihre zaghaften Annäherungsversuche bekommt er entweder nicht mit oder missversteht sie. Als sie ihm einmal Blumen für sein schmuckloses Zimmer bringen will, schmeißt er sie raus. Das und viele weitere kleinere Sticheleien machen das Verhältnis der beiden zueinander schwierig. Als sie sich endlich halbwegs zusammengerauft hatten, heiratet Miss Kenton, verlässt Darlington Hall und zieht mit ihrem Mann in den Westen. Der Dialog, in dem Miss Kenton Mr. Stevens das mitteilt, ist an Trockenheit und Steifheit kaum zu übertreffen:
»Es betrifft meinen Bekannten. Mit dem ich mich heute Abend treffe.«
»Ja, Miss Kenton.«
»Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht. Ich dachte mir, Sie hätten ein Recht, das zu erfahren.«
»Gewiss, Miss Kenton. Das ist sehr interessant.«
»Ich denke noch darüber nach.«
»Gewiss.«
Und hier schließt sich der Kreis. Zwanzig Jahre später, 1956, hat Mr. Stevens ein Personalproblem, und er erinnert sich der alten Miss Kenton. Offiziell ist er zwar auf Urlaub, er verbindet seine Reise nach Cornwall aber doch mit einem Besuch von Miss Kenton, in der Absicht, sie wieder nach Darlington Hall zu locken. Als er sie dann wirklich trifft, ist ihm aber schnell klar, dass sie nicht mitkommen würde und er stellt daher die Frage auch gar nicht. Dafür stellt Miss Kenton ihrerseits die Frage in den Raum, wie es wohl mit ihnen beiden verlaufen wäre, wenn sie zueinander gefunden hätten. Und da, an dieser einen Stelle, bekennt er sich zu seinen Gefühlen – wenn auch nur innerlich:
Wahrhaftig – warum sollte ich es nicht zugeben –, in diesem Augenblick brach mir das Herz.

Nach diesem zweistündigen Treffen braucht er zwei Tage, bis er sich wieder erfängt. Er sitzt eines Abend an der Promenade und denkt über die letzten Jahre und Jahrzehnte nach. Dabei ist er so ehrlich zu sich selbst, dass er sich vornimmt, ein bisschen weniger Butler zu sein und ein bisschen mehr Freude am Leben zu haben – zumindest in der Zeit, die vom Tage noch übrig blieb.


Kazuo Ishiguro ist hier ein wirklich schönes Werk gelungen. Sehr ruhige, aber äußerst präzise Erzählweise, noch dazu in einer Sprache, die britischer kaum sein könnte. Da ist auch dem Übersetzer Hermann Stiehl zu gratulieren, dass er das bei der Übertragung ins Deutsche so gut mitnehmen konnte! Der Roman ist jedenfalls so interessant geschrieben, dass man das Buch nicht mehr weglegt; obwohl sich die Handlung nicht gerade überschlägt. Ich habe den Roman jedenfalls gerne gelesen.

Warum dann aber nur vier statt fünf Sternen? Ich finde, dass der Auftrieb der politischen Führung ganz Europas der 1930er-Jahre auf Darlington Hall doch sehr, sehr dick aufgetragen ist. Die Episode wäre ein paar Nummern kleiner immer noch groß genug für eine Landvilla gewesen.

Aber was soll's. Was bleibt ist eine Leseempfehlung für alle, die eine ruhige, unspektakuläre, dafür aber gut und genau erzählte, Geschichte zu schätzen wissen!

1 Kommentar:

  1. Mir ist es ähnlich gegangen, als ich den Roman gelesen habe. Es passiert fast nichts, aber trotzdem kann man das Buch nicht weglegen.
    Ich hab es damals im Englischen als Hörbuch gehört. Simon Prebble als Leser war großartig und hat viel dazu beigetragen, dass mir das Buch so gefallen hat. Sehr zu empfehlen!

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