Donnerstag, 9. April 2020

Eleanor Catton: Die Gestirne ★★★★★

Eleanor Catton: Die Gestirne 


Cover: btb

Dieses Buch spaltet die lesende Gemeinde. Egal, auf welcher Bücher-Website man Rezensionen und Meinungen liest, sie lassen sich meist klar einteilen in "langweilig, langatmig, altertümlicher Stil, schade um die Zeit,.. " und in "großartiges Buch; ja, zugegeben, 1000 Seiten sind viel, aber ein so komplexer Sachverhalt braucht halt seine Zeit; wunderbar ge-und beschrieben; der Schreibstil passt genau zu der Zeit,..."

Ich hab mich durch diese mehr als 1000 Seiten gekämpft, wobei Kampf nicht der richtige Ausdruck ist, denn ich habe diesen Schmöker mit großem Genuss und Vergnügen gelesen!

Ich bekenne mich also zum zweiten Lager und fand dieses Buch ganz großartig. Ein dickes Lob an die noch sehr junge Autorin Eleanor Catton (sie bekam für diesen Roman mit 23 Jahren den Booker Prize!) und ihre Übersetzerin; einen derartigen Flohzirkus an Personen, Beziehungen und Handlungen muss man erst einmal bändigen!


Zunächst noch ein paar Worte zum Titel. Der Roman ist sehr strukturiert und konstruiert. Die Teile (Kapitel) und Unterkapitel stehen jeweils in einem Bezug zum Tierkreis, wobei die wichtigsten Personen als Planeten und Häuser und sonstiges Astro-Klimbim fungieren. Nur wer über genaue Kenntnisse in dieser Pseudowissenschaft verfügt, kann da vielleicht was herauslesen. Alle anderen seien getröstet: all das trägt zur Handlung rein gar nichts bei.

Das längste Kapitel ist Teil eins, das gleich einmal 45% des Romans einnimmt. Danach werden die Kapitel selbst immer kürzer, dafür aber die Zusammenfassungen am Anfang jedes Kapitels länger und wichtiger. Das soll auch in irgend einem konstruierten Zusammenhang mit den Mondphasen stehen; genauso das Coverfoto. Aber wie gesagt: nicht wirklich wichtig.

Aber wenn der Roman schon "Die Gestirne" heißt, mochte ich gerne bei dessen Beschreibung in diesem Bild bleiben. Worum geht's also:
  • Im Zentrum dieses Systems steht ein mächtiger Mehrfachstern. Seine Einzelsterne:
    • Anna Wetherell, im Buch durchgehend "die Hure" genannt
    • Emery Staines, ein reicher, aber noch sehr junger Goldgräber
    • Crosbie Wells, ein ehemals sehr erfolgreicher, aber um seinen Reichtum erleichterter Goldgräber, zuletzt völlig versoffener Holzhändler
  • Um dieses Zentalgestirn kreisen dann Planeten und deren Monde, wie zum Beispiel
    • Der Maori Te Rau Tauwhare
    • Dick Mannering, Goldmagnat und Zuhälter
    • Joseph Pritchard, der Apotheker, der die chinesischen Goldgräber mit Opium versorgt
    • Aubert Gascoine, der Gerichtsschreiber
    • A Suk, chinesischer Goldgräber und Besitzer der Opiumhöhle im Goldgräberlager
    • Lydia Greenway / Wells / Carver, betreibt das "Haus der tausend Wünsche"
    • Francis Carver, Kapitän
    • Alistair Lauderback, Politiker
    • George Shepard, Gefängnisvorsteher
    • Cowell Devlin, Geistlicher
    • Noch einige mehr
    • Und last, but not least: Walter Moody, Anwalt
Die Geschichte beginnt damit, dass Walter Moody an Bord der Godspeed in Hokitika ankommt. Dort, an der Westküste der südlichen Insel Neuseelands, tobt 1866 ein Goldrausch. Walter sucht sich zunächst ein Hotel und dann dort einen Raum, in dem er ein wenig von seiner aufregenden Fahrt ausspannen kann. Die Rezeption hat keinen wirklichen solchen Raum, aber sie bietet ihm an, sich den Herren im Raucherzimmer anzuschließen, die dort zu einem gemütlichen Clubabend zusammengekommen wären. Walter Moody nimmt dankbar an.

Im Raucherzimmer sind bereits 12 Herren versammelt und Walter ist bald klar, dass die nicht zufällig dort sind, sondern um Ereignisse zu besprechen, die sich in Hokitika in den letzten beiden Wochen abgespielt haben. Die Geschehnisse vom 14. 1. 1866 waren schon seltsam genug:
  • Da wird auf der Straße die Hure Anna Wetherell aufgegriffen, vom Opium derart zugedröhnt, dass alle vermuten, sie wollte Selbstmord begehen
  • Etwas flussaufwärts hauste der völlig versoffene und mittellose Sägewerksbetreiber Crosbie Wells, der just an jenem Abend tot in seiner Hütte aufgefunden wird. 
  • Und seit eben jenem Abend wird der junge Goldgräber Emery Staines vermisst, seines Zeichens der reichste Mann Hokitikas.
  • Außderdem läuft ohne Ankündigung oder gar Genehmigung des Hafenmeisters mitten in der Nacht die Godspeed aus.
Und was sich dann in den zwei Wochen seit diesem Abend noch in Hokitika ereignete, ist nicht minder interessant:
  • Seltsamerweise wurde in Crosbie Wells Hütte Gold im Wert von 4000 Pfund gefunden.
  • Ebenso seltsam aber, dass keinerlei persönliche Papiere wie Geburtsurkunde oder dergleichen, gefunden wurden
  • Der Nachlass Crosbie Wells wurde blitzartig abgewickelt, Provisionen sind bereits geflossen und auch schon wieder ausgegeben worden, ...
  • Ein paar Tage später taucht Lydia Wells auf, die Witwe, die natürlich ebenfalls Anspruch auf das Erbe erhebt. Es wusste nur niemand in Hokitika, dass Crosbie Wells verheiratet war.
In diesem Raucherzimmer erzählt nun jeder der Anwesenden, was er in den letzten beiden Wochen in Gesprächen mit den anderen in Erfahrung bringen konnte; bei zwölf und mehr Partnern ergeben sich da eine ganze Menge von Zweiergesprächen, und die wollen alle einmal erzählt werden. Und damit der Neuankömmling Walter auch wirklich mitbekommt, worum es geht, erzählt jeder im Wesentlichen auch seine eigene Geschichte. Kurz: Nur um das Setting aufzubereiten, geht schon einmal der gesamte Teil 1 des Romans auf: ca. 450 von 1040 Seiten.

Was da alles zum Vorschein kommt, kann ich an dieser Stelle einfach nicht nacherzählen. Ich geb nur ein paar Stichworte:
eine Schenkungsurkunde, die nur vom Zeugen Crosbie Wells, aber nicht vom Geber (Emery Staines) unterschrieben ist; eben jene Schenkungsurkunde wurde in der Aschenlade in Crosbies Hütte gefunden, der Pastor nimmt sie an sich – sicherheitshalber; Erpressung; Ehebruch; Mätressen; Opium, Opiumschmuggel, Opiumhöhle; Rache; Mord samt Prozess und Freispruch; Prostitution; Zuhälterei; Frisieren von Goldminen, indem bereits gefundenes und registriertes Gold wieder in der Mine verteilt wird; Kleider mit in den Säumen eingenähtem Gold; Spielsalons, manipuliertes Glücksrad, Haupttreffer namens Lydia; Politik; Schiffskauf unter falschem Namen; Schüsse ohne Projektile; Hinrichtung auf offener Straße; Verrat; Diebstahl; an Land gespülte Seekisten; Schiffbruch, mehrfach; überall verstecktes Gold (unter dem Bett, vergraben unter Bäumen, in Mehlkisten,...) und vieles vieles vieles mehr!

Jeder der Herren im Raucherzimmer hält also ein paar Puzzelteile in der Hand, das gesamte Bild kennt allerdings niemand. In den weiteren Teilen erfahren wir als Leser so nach und nach, was alles geschehen ist und wie sich die Geschichte weiter entwickelt. Wir können uns dann schön langsam das Bild vorstellen, aber leider haben die Puzzelteile keine Verbinder, und so bleibt das Bild zunächst unvollständig.

Diese Verbinder kommen dann ab Teil vier in Spiel. Es beginnt damit, dass Anna Wetherell und Emery Staines auf dem gleichen Schiff an der Reling stehen und ihre neue Heimat Neuseeland zum ersten Mal sehen. Sie stellen einander nicht vor und ihre Wege trennen sich, sobald sie das Schiff verlassen. Aber man merkt als Leser bereits, da wird sich noch mehr draus entwickeln. Danach kommen immer mehr Einzelheiten zum Vorschein, die das Bild dann endlich fertig stellen. Zum Schluss bleibt meiner Meinung nach keine Unklarheit mehr offen, alles löst sich auf.

Allein daran, was ich jetzt schon alles zu diesem Roman geschrieben hab, merkt man, wie komplex und verwickelt die Handlung ist. Ich hab wirklich großen Respekt vor der Autorin, all das erstens einmal zu konstruieren, und dann so dosiert zu Papier zu bringen, dass man als Leser häppchenweise an die Lösung herangeführt wird; ohne vorzugreifen, ohne zu früh zu viel zu verraten. Gut, könnte man einwerfen, vor diesem Problem steht jeder Autor. Aber noch einmal: Bei dieser Komplexität ist das schon noch einmal eine andere Liga.

Sprachlich hab ich immer wieder von einem Vergleich mit Charles Dickens gelesen. Da kann ich nicht so recht mitreden, Dickens ist nicht so mein Fall. Ich finde die Sprache jedenfalls gut an die Situation und die Zeit angepasst. Das bedeutet aber, dass sich manche Personen halt viktorianisch britisch und damit etwas umständlich ausdrücken und die Sätze dann etwas länger werden. Damit hab ich kein Problem, ich neige ja selbst zu Bandwurmsätzen; außerdem bin ich Javier Marías-erprobt.

Die Hauptcharaktere finde ich gut ausgearbeitet. Bei den Nebendarstellern hatte ich manchmal nicht so recht ein Bild davon, wie ich mir die Person oder deren Charakter vorstellen sollte; sie blieben ein wenig blass (zB. Frost, Nielssen).

Das ist ein Buch, für das man sich für längere Passagen Zeit nehmen sollte. Es ist definitiv kein Buch, wenn man immer nur ein paar U-Bahnstationen Zeit hat. Ausdauer ist vor allem in der ersten Hälfte gefragt, danach wird es etwas konventioneller.

Aber wenn man sich durch die 1000 Seiten durchgekämpft hat, ist man hinterher ein wirkliches Lesevergnügen und einen wirklichen Lesegenuss reicher!

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