Sonntag, 4. November 2018

Laura Spinney: 1918 - Die Welt im Fieber ★★★★☆

Laura Spinney: 1918 - Die Welt im Fieber 



Cover: HANSER

Die Spanische Grippe überrollte die Welt in drei großen Wellen, wobei die zweite im Herbst 1918 die verheerendste war. Grund genug, sich 100 Jahre später nicht nur mit dem zu Ende gehenden Ersten Weltkrieg und der Neuordnung Europas zu befassen, sondern auch mit dieser Krankheitswelle. 

In den letzten Jahrzehnten hat sich viel getan in diesem Bereich: heute sind Impfungen verfügbar, damals war das Wissen um Viren noch nicht allgemein verbreitet - auch unter Fachleuten nicht. Folgerichtig gab es auch keine entsprechenden Medikamente. Damals war man mit der Krankheit selbst und ihren Folgen beschäftigt, für eine wissenschaftliche oder statistische Nachbetrachtung war da einfach keine Zeit. Die wurde erst viel später begonnen und ist immer noch nicht vollständig abgeschlossen. Laura Spinney fasst in diesem Buch den aktuellen Wissensstand zusammen.

Und gleich vorweg: das macht sie meiner Meinung nach ganz ausgezeichnet! Sie verzichtet dabei auf einen chronologischen Ablauf, sondern betrachtet diese Pandemie und ihre Folgen nach Themengruppen: 
  • Wo ist die Krankheit ausgebrochen, welche möglichen Orte wurden und werden da als Kandidaten diskutiert? 
  • Wie hat man in unterschiedlichen Weltregionen auf diese Krankheit reagiert? Mit Pflege und Mitgefühl oder mit Isolation und Quarantäne? Welche Strategien erwiesen sich erfolgreicher, welche weniger? 
  • Warum waren die Verläufe so unterschiedlich: einmal relativ mild, ein anderes Mal ganze Dörfer ausradierend? 
  • Was tun mit den vielen Waisen, die nach ihren verstorbenen Eltern zurückblieben? 
  • Was bedeutet es für den praktischen Lebensalltag, wenn ein Drittel der Bevölkerung krank darnieder liegt? Überhaupt: wohin mit den vielen Kranken, wenn die Spitäler bereits überlastet sind?
  • Der Erste Weltkrieg war kurz vor seinem Ende; welche Auswirkungen hatte die Seuche auf die Streitkräfte oder gar den Kriegsausgang? Immerhin verloren die Allierten mehr Soldaten durch die Grippe als durch Kampfhandlungen.
  • Und viele mehr.

Die Schätzungen, wie viele Todesopfer die Grippe verlangt hat, reichen von 50 bis 100 Millionen, wobei die 50 Millionen heute als Untergrenze betrachtet werden. Unter all diesen namenlosen Toten gibt es aber auch zahlreiche prominente Opfer, beispielsweise Egon Schiele. Seine schwangere Frau Edith (Schwangere mit ihrem ohnehin reduzierten Immunsystem waren besonders gefährdet), starb am 28. Oktober. Egon Schiele malte danach noch schnell ein Porträt der Familie, die es so nie gegeben hat. Drei Tage später, am 31. Oktober, starb er selbst.

Egon Schiele: Die Familie
Quelle: Wikimedia Commons



Sehr breiten Raum nimmt auch die "Forschung danach" in Anspruch, vor allem die Versuche, die unternommen wurden, um das damalige Virus zu rekonstruieren und dessen Wirkung zu testen. Hier merkt man dann manchmal ganz zart, dass die Autorin Journalistin und keine Biologin ist; wenn sie bei Viren an manchen Stellen von "Lebewesen" oder "Organismen" schreibt, muss man das halt großzügiger Weise überlesen. 

Wirklichen Schaden nimmt die Qualität dieses Buches dadurch nicht. Im Gegenteil: ich finde, dass hier ein wirklich schönes Werk entstanden ist, das die Ereignisse von damals und die Forschungen danach ganz hervorragend aufbereitet. Sehr interessant und lesenswert!

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