Mittwoch, 4. November 2015

Hilary Mantel: Wölfe ★★★★★

Hilary Mantel: Wölfe 



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"Wölfe" ist der erste Band einer breit angelegten Trilogie über die englische Königsfamilie Tudor. Ihr bekanntester Vertreter ist sicherlich Heinrich VIII., immerhin hat er sechs Ehefrauen verbraucht (kann man ruhig so sagen) und die Anglikanische Kirche von der Katholischen abgespaltet.

Hilary Mantel beschreibt in diesem ersten Band die Jahre 1527 bis 1535 aus der Perspektive von Thomas Cromwell, der es vom Emporkömmling bis zum ersten Sekretär des Königs gebracht hat. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Annullierung bzw. Scheidung der ersten Ehe Heinrichs, die Einfädelung der zweiten Ehe sowie die Abspaltung der Anglikanischen Kirche als Folge des Ganzen.

Das Buch ist durchgehend im Präsens geschrieben, was eine ungeheure Nähe der Personen und Situationen erzeugt: "mitten drin statt nur dabei". Die dutzenden (oder hunderten?) kleinen Einzelszenen, die sich kaum über mehr als fünf Seiten erstrecken, stellen jeweils ein kleines Mosaiksteinchen eines Gesamtbildes dar, das sich so nach und nach entwickelt - denn die Chronologie ist schon weitgehend eingehalten, große Zeitsprünge gibt es nicht.

Alle Szenen sind aus der Perspektive von Thomas Cromwell beschrieben, allerdings nicht als Ich-Erzähler. Ein wenig mühsam beim Einlesen war die Tatsache, dass mir zu Beginn oft nicht klar war, wer "er" nun gerade ist; meistens ist es Cromwell selbst, die anderen Personen werden zwecks besserer Unterscheidung dann immer mit ihrem Namen gekennzeichnet. Was die Sache aber nicht unbedingt besser macht, denn ein und die selbe Person kann durchaus mit unterschiedlichen Bezeichnungen auftreten. So sind etwa "Mary Boleyn", "Lady Carey", "die Schwester der Königin", und "Lady Mary" immer die gleiche Person. Dass eine Hälfte "Thomas", die andere "Mary" oder "Anne" heißt, ist eine weitere Schwierigkeit. Und das alles bei dutzenden handelnden Personen! Es gibt zwar am Ende des Buches einen Stammbaum und ein Personenregister, ich hab mir aber zusätzlich ein eigenes angelegt mit den wichtigsten Daten der wichtigsten Personen.

Wenn am Ende alle Mosaiksteinchen aufgeklebt sind, ergibt sich ein wenig schönes Gesamtbild:

  • Kardinal und Lordkanzler Wolsey ist abgesetzt und entgeht nur deshalb seiner Hinrichtung, weil er auf der Rückreise nach London vorher noch von selbst stirbt. Sein Fehler: er hat die Auflösung der ersten Ehe Heinrichs mit Katharina von Aragón beim Papst nicht durchbekommen.
  • Katharina von Aragón lebt als "Prinzessinnenwitwe" im Hausarrest und entgeht ihrer Hinrichtung nur deshalb, weil sie die Tante des Deutschen Kaisers Karl V. ist; und der ist selbst Heinrich eine Nummer zu groß, den möchte er nicht zu sehr reizen.
  • Anne Boleyn ist seit Jahren die Mätresse des Königs und betreibt im Hintergrund die Annullierung der Ehe Heinrichs. Nur wenn sie Königin ist, will sie Heinrich an sich heran lassen; für diesen ein ganz starkes Motiv. Auch sie schafft es nicht, Heinrich einen männlichen Nachfolger zu schenken (schuld daran sind immer die Frauen), daher wird gegen Ende des Buches immer öfter der Name Jane Seymour fallen.
  • Thomas Cromwell (nicht zu verwechseln mit Oliver Cromwell) ist vom Sekretär Wolseys zum Sekretär des Königs aufgestiegen. Übrigens einer der ersten, der es ohne Adel so weit schafft. Er zieht im Hintergrund die Fäden, er schafft es, dass das Parlament den König als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche anerkennt. Alle wesentlichen politischen Mitspieler müssen per "Suprematseid" diese Tatsache zur Kenntnis nehmen.
  • Thomas More (bei uns besser bekannt als Thomas Morus) will diesen Eid nicht leisten und endet auf dem Richtblock. Damit schließt auch dieser erste Band der Trilogie. Im Buch wird Thomas More nicht als Heiliger geschildert, sondern als Politiker seiner Zeit, der ebenfalls nicht vor (eigenhändiger) Folter und Todesurteilen zurückschreckt.
  • Heinrich VIII. Tudor, eine Mischung aus dynastisch denkendem Monarchen, der unbedingt einen männlichen Nachfolger braucht, und sexuell ausschweifendem Maniac, der sich wieder an Anne Boleyns Schwester Mary heranmacht, während jene noch im Wochenbett liegt.
  • Und unzähligen Randfiguren bei Hof und in ganz England. Viele haben wortwörtlich ihren Kopf verloren, es waren unsichere und blutige Zeiten.

Wenn man mit diesem Buch durch ist, kann man wahrscheinlich sofort zu einer Prüfung in Englischer Geschichte des 16. Jahrhunderts antreten und wird glänzend bestehen. Hilary Mantel schreibt und schreibt und schreibt und... schreibt noch immer, nämlich am dritten Band, der für Ende 2015 angekündigt ist. Für die ersten beiden Bände hat sie übrigens jeweils den Booker Prize bekommen, die höchste Auszeichnung der englischen Literaturwelt; etwas, das vor ihr erst zwei andere Autoren geschafft haben!

Zu Recht, wie ich meine. Mit dem zweite Band "Falken" hab ich unmittelbar im Anschluss an den ersten begonnen - solange die Erinnerung an die vielen Personen noch frisch ist.

Alles in allem kann ich also eine klare Leseempfehlung abgeben; ein gewisses Durchhaltevermögen wird einem allerdings schon abverlangt. Die Empfehlung richtet sich unter anderem an alle Freunde von "Game of Thrones", einer ähnlich verwickelten, von vielen Personen getragenen Geschichte von Macht und Kampf, die aber rein fiktiv ist. "Wölfe" dagegen ist die Realität.

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Band zwei ("Falken") ist eine direkte Fortsetzung von "Wölfe" und mindesten so gut geschrieben wie der erste!

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