Sonntag, 2. April 2023

George Orwell: Reise durch Ruinen ★★★★☆

George Orwell: Reise durch Ruinen  ★★★★☆


Cover: C.H.BECK

Ich finde, der Autor George Orwell ist bei uns viel zu wenig bekannt. "Bekannt" ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn seine beiden Romane "Farm der Tiere" und "1984" kennt hier praktisch jeder. Aber seine weiteren Bücher sind, meiner Meinung nach, zu wenig bekannt und daher auch zu wenig gelesen.

Da kann ich mich gleich selbst bei der Nase nehmen, denn bis Anfang des Jahres kannte ich auch nur diese vorhin genannten Klassiker.

Als ich dann "Tage in Burma" las, war ich schwer begeistert! Seine Abrechnung mit dem Britischen Empire und dem Verhalten seiner Repräsentanten in Indien und Burma (Myanmar) ist wirklich gelungen! Orwell war fünf Jahre lang als Polizist dort stationiert. Der offen ausgetragene und völlig alltägliche Rassismus der britischen Herrenrasse kommt hier derart deutlich rüber, dass es einem beim Lesen schon fast zuviel wird. Auch ihm ging dieser Rassismus zutiefst gegen den Strich, nach fünf Jahren kehrte er, davon völlig angewidert, nach England zurück.

Und vor ganz kurzer Zeit kam mir eben dieses Buch unter die Augen. Von März bis November 1945 hielt sich George Orwell in Deutschland und Österreich auf. Er berichtete von hier aus über den Zusammenbruch des Nazi-Regimes und machte sich Gedanken über die Zukunft. Diese Reportagen erschienen dann in diversen englischen Zeitungen.

In diesem Buch sind einige dieser Berichte enthalten und im Anschluss gibt es ein ausführliches Nachwort, das die Rahmenbedingungen näher erläutert.

Mich hat fasziniert, wie genau er beobachtet hat und wie präzise er das Gesehene in Worte fassen konnte. Ganz besonders aber hat mich die Hellsicht beeindruckt, mit der er die Zukunft Europas skizziert hat – und das bereits mitten im Zusammenbruch!


Immer wieder beschreib er die Zerstörungen, die die Bomben in den Städten hinterlassen hatten. Das Ausmaß war für ihn völlig überraschend. Er schreibt nach Hause, dass man in England zwar auch Raketen- und Bombenangriffe durchmachen musste; aber die Zerstörungen hier überträfen jede Vorstellung.

Gleichzeitig fällt ihm aber auf, dass sich diese Zerstörungen auf die Städte und Industriegebiete konzentriert. Im ländlichen Umfeld geht das Leben relativ ungestört weiter. Die Bauern bewirtschaften ihre Felder wie eh und je und lassen sich von Flugzeug- und Gefechtslärm nicht sonderlich beeindrucken. Da machen ihnen die Kolonnen der "displaced persons" (DP), die jetzt überall zu sehen sind, weit mehr Sorgen.

Diese DP waren befreite Zwangsarbeiter sowie teilweise auch ehemalige KZ-Insassen und Kriegsgefangene (wir reden hier von etlichen Millionen Menschen!), die sich auf den Heimweg machten – zu Fuß, wohlgemerkt. Das war aber nur ein recht kleiner Anteil von ihnen. Der überwiegende Teil war gar nicht imstande, nach Hause zu gehen, oder wollte vielleicht gar nicht, weil die alte Heimat inzwischen von den Sowjets besetzt war und sie nicht unter deren Herrschaft leben wollten. Und so kam es, dass in den ersten Tagen diese DP zunächst einmal in Lagern versammelt wurden (Lager, wieder einmal) und dort vor allem mit Lebensmitteln und medizinisch versorgt wurden! 

Das funktionierte im Westen erstaunlich rasch. Was sich hingegen in der Sowjet-Zone im Osten abspielte, davon hatte man damals bestenfalls dunkle Ahnungen, es drang nichts nach draußen. Der Eiserne Vorhang begann sich bereits zu senken.

Orwell beklagt immer wieder genau das: Dass sich die Aliierten nicht zusammentaten und gemeinsam an Lösungen arbeiteten, sondern sofort getrennte Zonen etabliert wurden, in denen jede Siegermacht tat, was sie für richtig hielt.

Ihm war völlig klar, dass ein tiefer Graben Osten und Westen trennen würde – auf Jahrzehnte. Die beiden Blöcke (später Supermächte genannt), werden einander in einem kalten Krieg gegenüberstehen, von dem man nur hoffen kann, dass er nicht heiß wird. Seine eigene Heimat sieht er als zu schwach an, als dass sie bei den Riesen mitmischen könnte; das Vereinigte Königreich wird sich wohl den USA anschließen, aber sonst keine große Rolle mehr spielen. Die Zeit des British Empires ist vorbei, Indien wird demnächst wohl unabhängig werden. Frankreich ist ebenfalls zu schwach und zu zerstört und wird sich ebenfalls den USA anschließen.

Interessant ist, was Orwell nicht berichtet. Konzentrationslager und Holocaust kommen bei ihm nicht vor. Eine (für mich jedenfalls) unerklärliche Lücke! Jemand wie er hat das garantiert mitbekommen, viele KZs waren ja bereits befreit. Warum hat er dann nichts darüber geschrieben? Rätselhaft.

Alles in allem aber ein faszinierendes Buch! George Orwell starb bereits 1950 und hat daher die Realisierung vieler seiner Prophezeihungen nicht mehr erlebt. In Vielem lag er völlig richtig. Dass sich die Welt aber inzwischen weitergedreht hat und und sie daher heute anders aussieht, tut der Qualität seiner Aussagen und dieses Buches keinen Abbruch!

Ich kann das Buch jedenfalls uneingeschränkt empfehlen!




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