Donnerstag, 20. April 2023

"Ein Volksfeind" im Stadttheater Baden

Am Mittwoch gastierte das Landestheater Niederösterreich mit seiner Inszenierung von Henrik Ibsens Stück "Ein Volksfeind" im Stadttheater Baden.

Unglaublich. Wie brandaktuell dieses Stück ist! Man muss nur ein paar Begriffe, die im Stück vorkommen, durch andere ersetzen, schon findet man sich in Situationen, die wir gerade erst erlebt haben!

Das Ganze verpackt in einer stark gekürzten, den Personenkreis stark reduzierenden, modernen Inszenierung, die sich auf das Wesentliche beschränkte.

Ein mitreißender Abend, der das gesamte Publikum mitnahm!

Der Arzt und die Bürgermeisterin
Landestheater St. Pölten / Franzi Kreis


Worum es im Grunde geht, ist rasch erzählt.

Eine Stadt hat viel Geld in die Hand genommen, um ein neues Kurbad zu errichten und sich generell als Kurort zu etablieren. Der Kurarzt hat allerdings einen Verdacht und schickt daher eine Wasserprobe an die Universität zur Analyse. Das Ergebnis ist verheerend: Das Wasser ist derart verseucht, dass es innerlich und äußerlich angewendet zu schweren Gesundheitsschäden führt.

Der Arzt als Wissenschafter ist dabei, dieses Ergebnis in die breite Öffentlichkeit zu tragen.

Da hat seine Schwester (im Original ist es ein Bruder), die Bürgermeisterin und somit Politikerin, aber schwer was dagegen! Dieses Ergebnis darf mitnichten nach außen dringen! Das wäre für den Kurbetrieb, für die Stadt und den hiesigen Arbeitsmarkt einfach katastrophal! Sie, die Bürgermeisterin, untersagt ihrem Bruder, ihrem Angestellten und somit Untergebenen, jegliche weitere Schritte. Sollte er gegen ihren Willen arbeiten, wird sie ihn entlassen.

Die örtliche Presse ist anfänglich auf der Seite des Arztes. Als die Bürgermeisterin den big spender der Zeitung auf ihre Seite ziehen kann, wendet sich auch die Redaktion gegen den Arzt. Die öffentliche Meinung wird entsprechend geformt. Am Ende stehen alle gegen den Arzt, er wird zum Volksfeind erklärt.

* * *

Schon während der Aufführung gingen mir tausend Assoziationen durch den Kopf. Nach der Vorstellung wurden es immer noch mehr. Ich nenne nur einige in loser Aufzählung.

Den Gegensatz Wissenschaft versus Politik haben wir die letzten drei Jahre während der Corona-Pandemie ja hautnah erlebt:

  • "Was will uns so ein Mathematikerlein schon großartig erklären". Zitat eines Sektionschefs im Gesundheitsministerium, gemeint waren die Prognosen der Infizierung; die – im Nachhinein betrachtet – immer richtig lagen.
  • "Die Wissenschaftler würden am liebsten alle im ständigen Lockdown einsperren". Wilfried Haslauer, Landeshauptmann Salzburgs. Am kommenden Sonntag wird er wohl wiedergewählt werden.
    Sein oberösterreichischer Kollege war um nix besser.
  • Die Hasstiraden und der medizinische Blödsinn der rechten Recken sind hoffentlich noch in Erinnerung. Da wurde Putzmittel intravenös empfohlen, ebenso wie Entwurmungsmittel für Pferde.
  • Die Impfung hat allein in Europa mindestens eine Million Menschenleben gerettet (hat vor ein paar Tagen die WHO berichtet). Von den milderen Verläufen, die für eine Entspannung in den Krankenhäusern sorgte, rede ich da noch gar nicht. 
  • Und dann kamen abstruse Meldungen wie, Bill Gates lässt über die Impfung millionenfach irgendwelche Chips in uns arme Opfer injizieren.
  • Nebst zahlreichen anderen Verschwörungstheorien, eine schlimmer als die andere. Aber so blöd und absurd können die gar nicht sein, als dass sich nicht immer welche finden, die das glauben.
Bei diesen krassen Gegensätzen fallen mir immer wieder zwei sehr gelungene Buchtitel der Science Busters ein:


Häufig kommt im Stück durch: "Die Mehrheit hat immer recht". Ein paar Gegenbeispiele gefällig?

  • Der Brexit wurde mit knapp 52:48 Prozent angenommen und unter starken Geburtswehen durchgedrückt. Schön langsam macht sich aber doch Ernüchterung breit – auch unter den Brexiteers.
  • Kürzlich wurde in Paris abgestimmt, ob Leih-E-Scooter in Zukunft aus der Stadt verbannt werden sollen oder nicht. Das Ergebnis war überwältigend: 90% sprachen sich für dieses Verbot aus. Allerdings haben nur 8% der Wahlberechtigten an der Abstimmung überhaupt teilgenommen. Ein ziemlich krasses Beispiel von "die Minderheit terrorisiert die Mehrheit". Schuld trägt in diesem Fall meiner Meinung nach die Unfähigkeit und Feigheit der Bürgermeisterin. Ein Ergebnis mit einer derartig niedrigen Beteiligung dürfte nie und nimmer verbindlich werden.
Beide Beispiele zeigen meiner Meinung nach, dass derart gravierende Abstimmungen niemals mit einer Mehrheit von knapp über 50% angenommen werden dürfen. Da müssen im Vorfeld unbedingt Quoten definiert werden; sowohl für die Beteiligung (etwa "mindestens 50%") als auch für das Ergebnis (etwa "60% Zustimmung notwendig"). Über die Prozentsätze kann man natürlich diskutieren; aber 8% sind definitiv zu wenig!


Sehr zentral fällt im Stück die Kritik an der Zeitung (und in weiterer Folge auch an allen übrigen Medien) aus: Die Zeitung als Handlanger der Politik, um die Masse zu manipulieren. Beispiele aus jüngster Zeit:

  • Die Inseratenaffäre ist zwar juristisch noch nicht komplett aufgearbeitet. Es sieht aber ganz danach aus (bei aller Vorsicht), dass sich die Politik bei bestimmten Medien durch gezielte Vergabe von Inseraten eine wohlwollende Berichterstattung erkaufte.
  • Der Eisenbahntunnel durch den Semmering wurde von Niederösterreich jahrzehntelang verhindert, während die steirische Landesregierung immer für den Bau war.
    Die Kronen-Zeitung hat das immer schön gespiegelt: Die niederösterreichische Ausgabe war immer gegen, die steirische Ausgabe – der gleichen Zeitung wohlgemerkt – war immer dafür.
    Nur böswillige und missgünstige Gemüter vermuten da einen Zusammenhang! 
Die Beispiele ließen sich natürlich noch um viele Einträge erweitern.

Wie schon erwähnt, schaukelt sich die Sache derart auf, dass der Arzt letztlich als Volksfeind dasteht. 

Dabei ist er nur der Überbringer der Botschaft, verunreinigt haben das Wasser ja andere (im Original ist das eine Gerberei). Aber im allgemeinen Furor der Masse und der Politik wird da nicht mehr so fein unterschieden. Früher wurden Überbringer schlechter Nachrichten hingerichtet; da kommt der Arzt ja noch einigermaßen heil davon. Da kann man wieder einmal die Tante Jolesch zitieren: "Gott bewahre mich vor allem, was grade noch a Glück ist!"

Die Bürgermeister-Schwester spielt die Machtkarte aus und entlässt ihren Arzt-Bruder. Aber nicht nur ihn, sondern auch dessen Tochter verliert ihre Stelle als Lehrerin. Sippenhaftung glaubt man eigentlich auch überwunden, aber wenn's ernst wird...

* * *

Gespielt hat ein relativ kleines Ensemble, nur die wichtigsten Rollen waren besetzt, viele Nebenhandlungen und -beziehungen wurden fallen gelassen. Gut so. So kam das Wichtige des Stückes wirklich gut heraus!

Bei manchen Darstellern haben wir uns ein wenig mit der Verständlichkeit schwer getan. Aber insgesamt war das eine flotte und überzeugende Veranstaltung! Spätestens beim Schluss-Monolog des Arztes spürte man die Unruhe im Saal, weil die angesprochenen Themen einfach niemanden kalt ließen.

Lang anhaltender, großer Schluss-Applaus. Völlig zu Recht. Großartiger Theaterabend!


1 Kommentar:

  1. Das Zitat »Wer nichts weiß, muss alles glauben« ist (laut der erwähnten Science Busters) übrigens von Marie von Ebner-Eschenbach

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