Dienstag, 1. November 2022

Katharina Winkler: Blauschmuck ★★★★☆

Katharina Winkler: Blauschmuck  ★★★★☆


Cover: Suhrkamp

Blauschmuck. Jede Frau im Dorf hat ihn, keine spricht darüber. Blauschmuck, das sind die blauen Flecken, die die Frauen von ihren Männern bekommen haben. Blauschmuck, das ist die Zierde, die keine Frau mehr verlässt, weil sie täglich aufgefrischt wird.

Selten, dass ich ein derart brutales Buch gelesen habe. Krimis, Horror, Splatter: Die sind alle Fiktion. Hier geht es aber um reale Frauen und deren Qualen, hier geht es nicht um Einzelfälle sondern um den Normalzustand.

Es ist schon ein paar Wochen her, dass ich das Buch zu Ende gelesen habe. Die Schilderungen und Sprache der Autorin Katharina Winkler waren gewaltig – in jedem Sinn des Wortes. Ich brauchte diesen Abstand, um darüber schreiben zu können.


Filiz wächst in dem kleinen kurdischen Dorf Tekbaş in der Türkei auf; in einer Familie, wie sie hier ganz normal ist. Vater, der Herrscher über alles, Verteidiger der Ehre, der Entscheidungsträger, der Vollstrecker. 

Die Mutter hütet die Kinder, beschützt sie vor ihrem Vater - zumindest versucht sie das, hat ihrem Ehemann jederzeit sexuell zur Verfügung zu stehen, bekommt selbst aus nichtigem Grund – zumindest ist er das für uns – Blauschmuck verpasst.

Die Kinder hüten die Ziegen und Schafe und behüten einander vor dem Vater.

Aber wie gesagt: Das ist kein Einzelschicksal von Filiz, sondern in allen Familien geht es so her.

Eines Tages begegnet Filiz ihrem Traummann Yunus, den sie unbedingt heiraten will. Sie ist allerdings erst 12, aber drei Jahre ist es soweit. Sie heiratet gegen den Willen des Vaters und zieht zur Familie von Yunus.

Wenn ich den Frühstückstisch abgeräumt habe, werde ich die Küche putzen und den Boden wischen, auch in den Kammern, bevor ich im Hof die Wäsche koche. Yunus arbeitet nicht. Er ist der Mann im Haus. Das genügt.

Die ist genauso normal wie alle anderen; das heißt sie wird jetzt von ihrem Yunus ebenfalls verprügelt wie alle anderen Frauen. Yunus ist aber noch ein paar Grade brutaler und schlägt seine junge Frau bis zur Bewusstlosigkeit. Einmal wagte sie es, mit einem Mann zu sprechen, da gab es für ihn kein Halten mehr: Er legt ihr eine Schlinge um den Hals, tritt den Schemel weg und lässt sie eine Zeit lang baumeln.

Ich rechne mit meiner eigenen Maßeinheit. Die kleinste Einheit ist der Schlag. Die Schläge auf Rücken und Hüfte, auf Arme und Beine zählen je einen Punkt, die Schläge in den Bauch und auf die Finger je zwei Punkte, die Schläge auf den Kopf und ins Gesicht je vier, wenn sie mit dem Holz geschehen, verdopple ich die Punkte, wenn mit Metall, rechne ich sie mal vier, eine Vergewaltigung zählt acht Punkte.

Sie beschließen, nach Österreich zu ziehen. Filiz hofft, dass es ihr in einer neuen Umgebung besser geht. Aber die Traditionen und Gebräuche übersiedeln mit ihnen leider mit.

Yunus handelt offenbar mit Immobilien und ist tagelang nicht zu Hause. Filiz freundet sich mit dem Vermieter-Ehepaar an, die Kinder nennen sie inzwischen Oma und Opa.

Bei einem Arztbesuch übergibt die Arzthelferin Filiz ein Medikament. Beim Griff über die Theke rutscht der Ärmel hoch und der Blauschmuck kommt zum Vorschein. Die Arzthelferin reagiert sofort und schiebt sie in den Behandlungsraum, wo noch viel viel mehr Blauschmuck zum Vorschein kommt. Sie rät Filiz, ein Frauenhaus aufzusuchen; aber selbst dort würde sie sich nicht sicher fühlen. Sie geht nach Hause zurück.

Nach weiteren Gewalteskapaden beschließt Filiz, in die nahegelegene Donau zu gehen. Später wacht sie im Krankenhaus auf, die hellblau geschmückten Kinder am Bettrand, Yunus mit einem Blumenstrauß neben ihnen. Filiz schmilzt dahin und folgt ihnen nach Hause. Wo es genauso weiter geht wie bisher.

Eines Tages rastet er völlig aus. Er schlägt Filiz derart brutal, dass die Vermieter die Polizei rufen. 

Ab jetzt geht es bergauf. Filiz kann mit ihren Kindern in ein Frauenhaus ziehen, die Ehe wird geschieden und Yunus wird ein Kontaktverbot auferlegt. Nach 18 Monaten kann sie eine eigene Wohnung beziehen. Sie schließt eine Lehre als Köchin ab, die Kinder machen akademische Karrieren.

Die Geschichte von Filiz beruht also auf realen Vorkommnissen. Wie harmlos das klingt.

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An dem Nachmittag, an dem ich das Buch fertig gelesen hatte, brauchte ich erst einmal gemeinsam mit Jutta eine Stunde Spaziergang und Gespräch, um davon loszukommen. Ich konnte zu dieser Zeit keine klaren Gedanken fassen; man kann sagen, ich war fertig.

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Ich weiß schon, dass es auch bei uns Gewalt in der Familie gibt – und nicht zu knapp; allein die Tatsache, dass es Frauenhäuser gibt, spricht Bände. Aber hier wird wenigstens versucht, den Frauen und ihren Kindern zu helfen; und wenn ein Fall bekannt wird, beginnen auch die Mühlen der Justiz zu arbeiten. In Tekbaş und Umgebung haben sie keine Hilfe zu erwarten, höchstens noch mehr Blauschmuck.

Das Buch ist also nichts für schwache Nerven. Dennoch ist es wichtig und unbedingt empfehlenswert. Katharina Winkler hat dafür schon zahlreiche Auszeichnungen bekommen – zu Recht!

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