Montag, 18. April 2022

Vanessa Springora: Die Einwilligung ★★★★☆

Vanessa Springora: Die Einwilligung   ★★★★☆


Cover: Karl Blessing Verlag


Die MeToo-Bewegung war bereits seit Monaten im Gang, als Vanessa Springora mit ihrem Buch Anfang 2020 noch eins draufsetzte.

Denn ihre Geschichte ist nicht eine einer Erwachsenen, sondern die einer damals Minderjährigen.

Jetzt kann man die Frage stellen, inwieweit eine 14-Jährige überhaupt überblicken kann, auf was sie sich da einlässt, wenn sie eine Beziehung zu einem Mann eingeht, der 36 Jahre älter ist als sie. Und ob man dieses Hineinrutschen in diese Beziehung als "Einwilligung" bezeichnen kann. Das wäre nämlich die eine Bedeutung dieses Wortes.

Aber viel schlimmer ist die zweite Bedeutung dieses Wortes. Nämlich die Einwilligung zu dieser Beziehung durch ihre unmittelbare Umgebung – inklusive ihrer Mutter. Noch dazu zu einem Mann, von dem alle wussten, dass er es gerne mit Minderjährigen hält.


Denn Gabriel Matzneff war kein Unbekannter. Er war Anfang der 1980er-Jahre in Frankreich ein sehr bekannter Literat. Seine Werke zeichneten sich dadurch aus, dass er aus seiner pädophilen Neigung kein Hehl machte, sondern ganz offen darüber schrieb und in Talkshows im Fernsehen ebenso offen darüber sprach. Detailliert lässt er sich unter anderem über seine Reisen auf die Philippinen aus und was er da mit minderjährigen Jungen dort so alles erlebt hat.

Und niemand fand etwas dabei oder schritt ein. Ganz im Gegenteil.

1977 verfasste er einen offenen Brief, in dem er die Freilassung dreier inhaftierter Pädophiler verlangte. Der Brief wurde von großen Namen unterzeichnet (u.a. Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir) und in einer ebenso großen Zeitungen veröffentlicht (Le Monde). Jegliches Augenmaß verloren, nur um nicht als reaktionäre Spießer dazustehen.

Vanessas Mutter war bei einem Verlag angestellt und hatte daher natürlich viele Kontakte in der Literatenszene, unter anderem zu G.M. (so nennt sie ihn in ihrem Buch). Nach einem Essen, bei dem auch die Autorin dabei war (damals noch 13), bedrängte er diese mit Briefen, holte sie von der Schule ab und ließ ihr jedenfalls so lange keine Ruhe mehr, bis sie eines nachmittags in seiner Wohnung landete. Die Besuche wurden häufiger und fielen bereits auf, also verlegte G.M. seinen Wohnsitz in ein Hotel in einer ruhigen Gegend. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Als G.M. wieder einmal auf Verjüngungskur in der Schweiz ist, traut sich Vanessa die verbotenen Bücher und Tagebücher durchzublättern, die im Hotel lagern. Als sie merkt, dass G. diese philippinischen Jungen sowie frühere Beziehungen eins zu eins von seinen Tagebüchern in seine veröffentlichten Bücher übernimmt, wird ihr klar, was das für sie bedeutet: Eines Tages wird ihre Beziehung zu G. ebenfalls veröffentlicht werden. In den Tagebüchern ist sie schon.

Sie bricht daraufhin die Beziehung ab, zumindest versucht sie das. G.M. bedrängt sie aber weiterhin mit Briefen an sie selbst bzw. an ihre Mutter, doch wieder zu ihm zurück zu kehren, denn nur sie... denn sonst hat sein Leben keinen Wert mehr... etc. Sowas in der Preisklasse. 

Was sexuelle Ausbeuter im Allgemeinen und Pädokriminelle im Besonderen auszeichnet, ist eben genau die Tatsache, dass sie die Schwere ihrer Vergehen leugnen. Sie stellen sich entweder gern als Opfer dar – verführt von einem Kind oder einer aufreizenden Frau – oder als Wohltäter, die ihrem Opfer nur Gutes getan haben.

Aber am schlimmsten fand ich die Reaktion ihrer Mutter:

Als ich meiner Mutter verkünde, dass ich G. verlassen habe, ist sie zuerst sprachlos, dann ruft sie aus: »Der Arme, bist du dir sicher? Er vergöttert dich!«

Einige Hürden und Zwischenstationen später, gelingt es ihr letztlich, die Schulausbildung nachzuholen. Aber an ein normales Leben ohne G.M. ist weiterhin nicht zu denken. 

Inzwischen gibt es etwa eine Website, auf der sie ihre damalige Zeit wiedererkennt, und es ist vollkommen klar, dass G. dahinter steckt. Aber ein Einschreiten dagegen ist unmöglich: Der Server steht außerhalb des Landes, der Betreiber ist daher  gerichtlich nicht belangbar. Außerdem ist dieser nicht G.M. sondern irgendjemand anderer, den er beauftragt hat. Juristisch gilt die Seite daher als Fan-Seite und ist somit auch inhaltlich nicht angreifbar.

Wie man sich leicht vorstellen kann, hat sie danach auch erhebliche Schwierigkeiten, eine normale, vertrauensvolle Partnerschaft einzugehen. Es dauert Jahre, bis sie sich eine solche zutraut und eingeht.

Und es dauert eben Jahre, bis sie über all das schreiben kann. Juristisch hat diese Enthüllung keine Auswirkungen, denn die Delikte sind allesamt verjährt. Aber das Schreiben war eine Art Therapie.

Wenn man bedenkt, was sie hinter sich hat, ist dieses Buch erstaunlich nüchtern geschrieben, wie aus einer Art Vogelperspektive. Ich hätte durchaus Verständnis gehabt, wenn sie manchmal verbal etwas stärker auf ihn eingedroschen hätte, aber das ist nicht der Fall. Damit verhindert sie, dass man ihr vorwirft, ein reines Abrechnungsbuch verfasst zu haben. Klar nennt sie die Dinge beim Namen (erstaunlich klar), bleibt dabei aber frei von blindem Hass oder wildem Um-sich-schlagen.

Insgesamt ein sehr persönliches Buch (klar, persönlicher geht's ja kaum), nach dessen Lektüre man einfach kopfschüttelnd zurück bleibt.

* * * * *

PS: Inzwischen hat die Vergangenheit G.M. aber doch eingeholt. Er ist inzwischen eine Art Paria, an den niemand mehr anstreifen will, und die Verlage haben seine Bücher aus dem Sortiment genommen. Die Medien, die ihn damals unterstützt hatten, haben ihre Entschuldigungen ausgesprochen und sich im Wesentlichen auf den damaligen Zeitgeist herausgeredet.

Immerhin, der Zeitgeist hat sich gewandelt. Solche offenen Briefe und Fernsehauftritte wären heute undenkbar.




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