Samstag, 9. April 2022

Ian McEwan: Maschinen wie ich ★★★★☆

Ian McEwan: Maschinen wie ich  ★★★★☆


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Charlie ist völlig abgebrannt, pleite. Er kann sich gerade so über Wasser halten und im Erdgeschoß eines Hauses wohnen, in dessen erstem Stock die Studentin Miranda lebt. Klar, dass sich im Laufe der Zeit zwischen den beiden was entwickeln wird.

Allerdings kommt plötzlich ein Dritter ins Spiel.

Von der Erbschaft seiner Mutter kauft Charlie sich einen voll entwickelten, mit Emotionen ausgestatteten Androiden; zu diesem Zeitpunkt sind gerade einmal 25 Stück weltweit verkauft worden – zu einem horrenden Preis. Diese 13 Adams und 12 Eves sind aber auch wirklich gut gelungen! Sehen täuschend echt aus, bewegen sich ganz natürlich und entwickeln mit der Zeit ein Bewusstsein und einen Charakter.

Man kann in der Anfangsphase anhand von zig Parametern einstellen, welchen Charakter so ein Androide annehmen soll. Charlie beantwortet bei seinem Adam nur jede zweite Frage, die andere Hälfte der Fragen zu beantworten, lädt er Miranda ein. Adam wird also zu ihrem gemeinsamen Androiden. Miranda hat die Antworten tendenziell so gesetzt, dass Adam sich in sie verlieben muss.

Und so hat Charlie plötzlich einen ernstzunehmenden Rivalen im eigenen Haus!


Das Verhältnis zwischen Adam und Miranda ist aber nur eine kurze Episode. Miranda wollte halt einfach nur wissen, wie das so ist mit einem Androiden. Wirklich verliebt ist sie eh nur in Charlie.

In diesem Buch gibt es etliche "kurze Episoden". Grund ist, dass der Autor sehr viele Themen anreißt und ins Buch aufnimmt, die aber nicht weiter verfolgt werden. Meinem Gefühl nach zu viele. Ich komme in Kürze noch einmal darauf zurück.

Interessant ist das historische Setting in diesem Roman.

Es setzt 1982 ein, als eine gewisse Margaret Thatcher eine riesige britische Flotte in den Südpazifik schickt, um die argentinische Militärjunta von den Falklandinseln zu vertreiben. Anders als in der Realität kommt diese Flotte aber nicht siegreich, sondern ziemlich aufgerieben wieder nach England zurück, nachdem die Argentinier die Malvinas erfolgreich verteidigt hatten.

Im Roman lebt zu dieser Zeit auch noch Alan Turing, obwohl er in der Realität damals bereits fast 30 Jahre tot war. Hier hat er aber entscheidend zur Entwicklung dieser Androiden und deren Intelligenz beigetragen. Was durchaus realistisch ist, hätte man dieses Ausnahme-Genie nicht in den Selbstmord getrieben.

Wirklich gut gelungen finde ich, wie Ian McEwen sehr viele Aspekte zur Sprache bringt, die mit so einer hochentwickelten künstlichen Intelligenz zusammenhängen. 

Die Hingezogenheit zu Miranda hab ich schon angesprochen. Aber da ist etwa noch sein "Schlaf", der gar kein richtiger Schlaf ist, sondern eine Ruhephase am Ladekabel. Er ist letztlich ja doch eine Maschine. Die Ruhephase, in der er – hellwach – im Hintergrund seine Recherchen anstellt, sich weiterbildet, mit Behörden kommuniziert oder so nebenbei in fremde Computersysteme einbricht.

Mit einem Startkapital von wenigen Pfund, die er von Charlie erhält, gelingt es ihm, im Wertpapierhandel innerhalb kürzester Zeit ein kleines Vermögen zu erwirtschaften; er ist einfach besser informiert und schneller im Handeln als seine Mitbewerber aus Fleisch und Blut.

Sie werden uns an unseren Arbeitsplätzen ersetzen; an allen Arbeitsplätzen, nicht nur im Wertpapierhandel. Und was machen wir dann mit unserer vielen Tagesfreizeit? Wovon werden wir leben, wenn wir von ihnen vom Arbeitsmarkt verdrängt sind? 

Bald wären wir vielleicht Sklaven unserer beschäftigungslosen Zeit. Und dann? Eine allgemeine Renaissance, eine Befreiung von der Arbeit, die zu Liebe, Freundschaft und Philosophie führt, zu Kunst und Wissenschaft, Naturverehrung, Sport und Hobbys, zu neuen Erfindungen und zum Nachdenken über den Sinn des Lebens? Schöngeistige Freizeitbeschäftigungen aber sind nichts für jedermann. Verbrechen und Gewalt üben ihre eigene Faszination aus, ebenso Faustkämpfe in Käfigen, Virtual-Reality-Pornos, Glücksspiele, Alkohol und Drogen, sogar Langeweile und Depression. Wir würden nicht Herr unserer Entscheidungen sein. Ich war dafür der Beweis. [1]

Derart hochentwickelte Androiden werden sich auf Dauer nicht mit dem Schicksal als Sklaven abfinden. Einmal lässt sich Adam von Charlie per Knopfdruck ausschalten. Beim zweiten Versuch bricht er ihm den Arm; noch später findet er einen Weg, diesen Knopf überhaupt zu deaktivieren. Wie übrigens auch andere Androiden. 

Einige von ihnen fallen außerdem in Depression, einige begehen Selbstmord, eine Eve hat einen Weg gefunden, bei sich Demenz auszulösen und sich auf diese Art aus der Welt zurückzuziehen.

Individualität war gestern. Heute leben wir in einem Ozean von miteinander verknüpften Gehirnen, jeder weiß alles von den anderen; kollektives Bewusstsein:

Wir werden in einer geistigen Gemeinschaft leben und zu jedem Kopf unmittelbaren Zugang haben. Die Vernetzung wird so weit gehen, dass die individuellen Knotenpunkte der Subjektivität sich auf‌lösen in einem Ozean von Gedanken, wofür das Internet nur ein kruder Vorläufer ist. Und da wir in den Köpfen aller leben werden, wird jede Verstel‌lung unmög‌lich.

Die Entwicklung Adams ist inzwischen ein Selbstläufer und wächst Charlie und Miranda schön langsam über den Kopf; sie steigert sich noch – bis zum großen Showdown.

Noch einmal zurück zu den "kurzen Episoden". Zugegeben, Ian McEwan hat sich wirklich gründlich mit der Materie auseinandergesetzt. Dabei sind ihm halt sehr viele Dinge untergekommen, die er unbedingt im Buch unterbringen wollte. Einige davon sind für die Handlung wichtig, viele andere aber eher nicht. Ich werde nur einige davon stichwortartig aufzählen:

  • Autonome Fahrzeuge, die wegen ihrer schieren Anzahl und technischer Probleme ständig Stau produzieren und daher nur kurz auf dem Markt sind
  • Alan Turing hat nicht nur die Turing-Maschine (gibt's wirklich) entwickelt, sondern hat auch noch das P-NP-Problem gelöst (gibt's auch wirklich, ist aber nach wie vor ungelöst)
  • Bayes-Statistik
  • Relativitätstheorie, Quantenmechanik, und die – zugegeben, legendäre – 5. Solvay-Konferenz (1927). Auf dem Gruppenfoto haben 19 von 27 Personen einen Nobelpreis bzw. werden ihn noch bekommen!
  • Mirandas dunkles Geheimnis; damit verbunden Aspekte zu Vergewaltigung, Rassismus, Wahrheit und Rache, Anspielung auf "Kap der Angst"
  • Vernachlässigung von Kindern, Adoption
  • Margaret Thatcher, ihr Nachfolger, Streiks und Demonstrationen, das Birmingham-Attentat

Weniger wäre hier wahrscheinlich mehr gewesen.

Dennoch halte ich diesen Roman für sehr gelungen. Er beschreibt auf  allgemein verständliche Weise, und somit einem breiteren Publikum zugänglich, was in den nächsten Jahren in Sachen Künstlicher Intelligenz (KI) so auf uns zukommen wird; eingebettet in eine vielschichtige Story. Nicht zu vergessen der fantastische Schreibstil des Meisters; wieder einmal auf Top-Niveau!

Vielleicht ist die KI noch nicht morgen soweit, aber übermorgen. Spätestens. Alle Welt arbeitet an diesen Themen. In vielen Ecken (Sprache / Spracherkennung / Übersetzung [2], Bilderkennung / Medizin, Bildgenerierung [3], Bildbearbeitung, autonomes Fahren etc.) gibt es schon erfolgversprechende bzw. Erfolg versprechende Ansätze, wenn nicht gar Lösungen.

Er behandelt also einen ganzen Themenkomplex, mit dem wir uns in naher Zukunft auseinanderzusetzen haben – ob wir nun wollen oder nicht. 

Große Leseempfehlung!


[1] Zbigniew Brzeziński hat bereits vor 30 Jahren den Begriff "Tittytainment" geprägt. Er meinte, wenn der Großteil der Bevölkerung nicht mehr im gängigen Produktionsprozess eingebunden ist, muss sie mit irgendwas bei Laune gehalten werden. Wenn man sich die Entwicklung des Fernsehens ansieht, muss man zugeben, dass er wohl recht hatte...

[2] KI schreibt Zeitungsartikel. Sehr schönes Beispiel im Standard

[3] Die "Fotos" auf dieser Webseite sind allesamt von einer KI generiert! Wir dürfen sie übrigens einfach so verwenden und müssen nicht auf Urheber- oder Personenrechte achten!

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