Samstag, 25. Januar 2020

Fernando Aramburu: Patria ★★★★★

Fernando Aramburu: Patria 


Cover: rowohlt

Wow! Was für ein Start in das neue Lesejahr! So könnte es ruhig weitergehen, wenn's nach mir ginge!

Mit starker Hand zeichnet Fernando Aramburu die Situation im Baskenland von den 1970er-Jahren bis heute nach. Damals hielt die ETA das Land mit seinen Terroraktionen in Atem. Opferbilanz: 850 Tote. Das Buch ist aber keine nüchterne Dokumentation, sondern ein Roman. So kommen nicht nur Täter und Angehörige von Opfern vor, sondern er behandelt auch die sozialen Auswirkungen und beschreibt den Alltag im Baskenland dieser Zeit.

Konkret wird die Geschichte zweier Familien in einem kleinen (fiktiven) Dorf nahe San Sebastián erzählt. Der eine Familienvater wird eines Tages von einem ETA-Kommando erschossen und es ist klar, dass der eine Sohn der anderen Familie zumindest dabei war. Aber hat er auch geschossen? Das ist die Frage, um die sich alles dreht in diesem Buch.

Es ist vor allem die zentrale Frage, die die Witwe umtreibt. Sie unternimmt alles, um von diesem Sohn Klarheit und vor allem eine Entschuldigung und ein Zeichen der Reue zu bekommen. Der ist aber bis zuletzt stur und bleibt bei seiner ETA-Ideologie, obwohl er bereits seit 17 Jahren im Gefängnis sitzt. Erst ein Foto seiner Schwester, das ihm diese schickt, bringt den Umschwung und alles klärt sich auf (nein, der Schluss wird hier nicht verraten).

Ich probier gleich gar nicht, mich an einer Inhaltsangabe zu versuchen; zu umfangreich ist dieses Buch und zu viel passiert darin. Nur grobe Umrisse. Die beiden Familien sind eng befreundet. Die eine Mutter und deren Sohn radikalisieren sich aber immer mehr und fallen auf die Ideologie der ETA herein; das geht eben soweit, dass Sohn Joxe Mari letztlich der ETA beitritt und an etlichen Mordkommandos beteiligt ist. Er wird mit seinen beiden anderen Mittätern für die Region seines Heimatdorfes zuständig und damit nimmt das Unheil seinen Lauf.

Der Vater der anderen Familie betreibt ein kleines Fuhrunternehmen und wird seit einiger Zeit von der ETA zu Schutzgeldzahlungen aufgefordert. Aber nicht nur das: im Dorf werden Parolen gegen ihn an Hauswände gepinselt und die Dorfgemeinschaft schließt die Familie mehr und mehr aus. Txato zahlt aber eines Tages nicht mehr und unterschreibt damit quasi sein eigenes Todesurteil. Am Tag seiner Hinrichtung, kurz vor Mittag, begegnet er sogar noch Joxe Mari, aber da passiert noch nichts. Erst als er von der Mittagspause wieder in seine Firma fahren möchte, wird er vor seinem Haus exekutiert. Nach der Beerdigung verlässt die Witwe das Dorf und zieht nach San Sebastián. 20 Jahre später fährt sie immer öfter in ihr altes Dorf, um Nachforschungen anzustellen. Sie nähert sich immer mehr der Familie von Joxe Mari an, was natürlich für Aufruhr im Dorf sorgt - aber das ist ihr inzwischen egal. Mit Hilfe von Arantxa, der Schwester von Joxe Mari, gelingt es ihr, gegen den erbitterten Widerstand der Mutter, ihre Fragen beantwortet zu bekommen. Das Buch endet damit, dass die beiden Mütter einander im Dorf begegnen, sich kurz umarmen und sofort wieder ihres Weges gehen.

Diese Geschichte mit zahlreichen Nebenhandlungen wird auf 700 Seiten ausgebreitet, aufgeteilt auf etwa 120 Kapitel. Von Kapitel zu Kapitel gibt es Zeitsprünge, die aber kein Problem darstellen, man kennt sich als Leser sofort aus, in welchem Zeitabschnitt man sich gerade befindet. Ebenso zahlreich sind die Perspektivwechsel, was die Erzähler betrifft: mal er/sie, mal ich, aber auch hier wieder: kein Problem, meist merkt man als Leser nicht einmal, dass gerade so ein Wechsel stattgefunden hat.

Der Autor hat für diesen Roman bereits zahlreiche Preise eingeheimst. Und wenn man im Internet ein wenig danach recherchiert, wird dieses Buch immer wieder zitiert im Sinne von "Wer wissen will, wie es im Baskenland damals zugegangen ist, muss dieses Buch lesen". Es ist inzwischen zu so etwas wie einem Standardwerk zu den Themen Baskenland und ETA geworden. 

Ich kann mich dieser Meinung nur anschließen. Großartiges Werk!

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Einen großen Kritikpunkt möchte ich noch anführen, der aber nicht den Roman selbst betrifft, sondern den Verlag.

Der Autor lässt im Text zahlreiche baskische Ausdrücke stehen; die werden aber leider nicht an Ort und Stelle oder als Fußnote übersetzt, sondern es gibt lediglich ein Glossar mit diesen Ausdrücken am Ende des Buches. Und weil das Baskische so ganz anders ist als alle anderen Sprachen (es mit mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt), kann man sich diese Wörter auch kaum merken. Resultat: man muss ständig hin und her blättern, um den Text zu verstehen. Hier hätte ich mir mehr Service und Sorgfalt des Verlags gewünscht.


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