Montag, 9. September 2019

Zülfü Livaneli: Unruhe ★★★★☆

Zülfü Livaneli: Unruhe 


Cover: Klett-Cotta

Vor einigen Jahren hatte ich den Roman "Glückseligkeit" gelesen und war davon recht angetan. Zülfü Livaneli gelang es darin, die Themen Militär, Kurden und vor allem Ehrenmorde stimmig rüber zu bringen.

Sein neuer Roman "Unruhe" ist ein sehr aktuelles und zeitnahes Buch. Es behandelt die Situation im Grenzgebiet zu Syrien und die Zustände in den Flüchtlingslagern dort. Im Zentrum der Handlung stehen aber die Jesiden, die vor wenigen Jahren vom IS vertrieben und beinahe ausgerottet wurden, wären sie nicht von den Kurden im letzten Moment gerettet worden - zumindest einige.

Aber leider ist die Handlung ziemlich überkonstruiert und die Personen und deren Handlungen sind nicht mehr als grobe Holzschnitte, die noch wesentlich mehr Details vertragen hätten.

Literarisch also nur drei Sterne, mehr als Durchschnitt ist es diesmal leider nicht. Den vierten Stern bekommt das Buch wegen des behandelten Themas. Ich hab durch dieses Buch mehr über die Jesiden, deren Verachtung durch Muslime, die Kurdengebiete und tief verwurzelten Aberglauben gelernt, als in allen Medienberichten der letzten Jahre zusammen.


Ein Journalist, der in der osttürkischen Stadt Mardin aufgewachsen ist, aber seit Jahrzehnten in Istanbul lebt, erfährt durch Zufall, dass sein Schulkamerad in den USA vom IS ermordet wurde. Er kommt noch rechtzeitig zum Begräbnis nach Mardin und findet dort eine komplett andere Stadt vor, als er sie in Erinnerung hatte. Die schleichende Islamisierung durch die AKP, die wieder schärfer gewordenen Konflikte mit den Kurden und vor allem der Bürgerkrieg im nahen Syrien haben die Stadt verändert.

Bei seinen Nachforschungen stellt er fest, dass sein Schulfreund ein jesidisches Flüchtlingsmädchen heiraten wollte und dafür sogar seine Verlobung mit einer türkischen Braut aufgelöst hat. Ein bisschen viel auf einmal: die gekränkte Ehre der Braut und eine Teufelsanbeterin heiraten, die vom IS verfolgt wird, das kann nicht gut gehen. Seine tief religiöse Mutter bietet sämtliche Zaubereien auf, die ihr zur Verfügung stehen, nur um ihr Haus wieder in Ordnung zu bringen, in dem sich kurz diese Jesidin aufgehalten hat.

Die Jesiden haben eine sehr alte Religion, wesentlich älter als Judentum, Christentum und Islam. Sie glauben zwar an einen Gott, im Zentrum steht aber der Engel Melek Taus. Der ist von Gott einst abgefallen, womit sich eine gewisse Parallele zu Luzifer ergibt. Er hat seinen Abfall aber tief bereut und Jahrtausende lang geweint und damit die Ozeane mit Salzwasser gefüllt. Letztlich wurde er von Gott wieder aufgenommen, seine Reue war echt. Melek Taus ist also sowohl ein Böser als auch ein Guter. Seine Zeit als Böser reicht aber aus, dass die Jesiden als Teufelsanbeter betrachtet werden; seine Wiederaufnahme wird ausgeblendet.

In der Logik des IS ist daher klar, dass die Jesiden Feinde des Islams sind. Daher wurden sie auch bis aufs Letzte verfolgt, versklavt, vergewaltigt und ermordet. Die Flucht der Jesiden vor dem IS war vor ein paar Jahren praktisch täglich in den Nachrichten.

Außerdem kann man Jeside nur durch Geburt werden; sie erlauben daher auch nur, dass Jesiden untereinander heiraten. Die Idee des Schulfreundes, als Muslim eine Jesidin zu heiraten, war daher von vornherein zum Scheitern verurteilt.

All das und noch viel mehr erfährt der Journalist von einer Freundin dieses Mädchens; gemeinsam gelang ihnen die Flucht. Seit der Schulfreund aber seine neue Braut aus dem Lager geholt hat, lebt sie ohne sie dort. Nach dem Eklat in dessen Haus und der überstürzten Flucht vor dessen abergläubischen Mutter verliert sich ihre Spur. Der Journalist macht sich nach dem Tod seines Schulfreundes auf die Suche nach ihr. Er sucht noch immer.

Wie schon gesagt, bleiben die Figuren im Roman aber leider flach, auch die angeschnittenen Gegensätze zwischen dem Osten und dem Westen der Türkei sind diesmal nicht so gut herausgearbeitet wie in "Glückseligkeit". Wenn das Thema der Jesiden nicht wäre, wäre das Buch nicht in dieser Liste meiner Empfehlungen.

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