Donnerstag, 26. April 2018

Jón Kalman Stefánsson: Himmel und Hölle ★★★★★

Jón Kalman Stefánsson: Himmel und Hölle 


Quelle: Piper

Ich hatte mich also nicht geirrt, ich habe wirklich einen neuen Autor für mich entdeckt! In relativ einfachen Sätzen gelingt es Jón Kalman Stefansson, ein dichtes Stimmungsbild von Island und seinen Bewohnern hervorzurufen.

Die einzige Zeitangabe im ganzen Buch ist, dass "Zola wieder einen neuen Roman veröffentlicht hat", wir bewegen uns also am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Junge, dessen Namen wir nie erfahren, und sein Freund Bardur bereiten sich vor, mit vier anderen in der kommenden Nacht aufs offene Meer hinauszurudern, um Dorsch zu fangen. Das Wetter ist gut, sodass der Kapitän beschließt, diesmal etwas weiter rauszufahren. 

Was die beiden vereint und sie von den anderen abhebt, ist, dass sie beide flüssig lesen können und jede freie Minute ihre Nasen in Bücher stecken. In Wirklichkeit sind sie als Fischer ungeeignet, sie machen das nur zum Broterwerb. Bardur ist von John Miltons "Paradise Lost" so begeistert, dass er dem Jungen ständig daraus zitiert. So begeistert ist er, dass er kurz vor der Ausfahrt noch einmal in die Hütte zurück geht, um eine besonders schöne Stelle noch schnell auswendig zu lernen.
Sie fahren aus, doch als Bardur bemerkt, dass er seinen wetterfesten Anorak in der Hütte vergessen hat, ist es für eine Umkehr schon zu spät, außerdem kann man es bei diesem guten Wetter ohne weiteres ohne Anorak aushalten.

Es bleibt aber nicht dabei. Plötzlich und unvorhergesehen zieht ein Sturm auf. Er peitscht das Meer auf und bringt vor allem eiskalten Polarwind mit. Bardur ist völlig durchnässt und kämpft noch eine Zeit lang gegen die Kälte, indem er viel Bewegung macht. Aber letztlich müssen die anderen fünf dabei zusehen, wie er diesen Kampf verliert. Es hätte auch nichts gebracht, wenn einer Bardur seinen Anorak zeitweise geborgt hätte. Denn dann wären mindestens zwei durchnässt und verloren gewesen und in Wirklichkeit alle sechs, weil die übrigen vier das Land nicht mehr erreicht hätten.

Sie bringen den Toten in die Hütte und der Junge will nur noch weg. Als seine letzte Aufgabe betrachtet er, das unheilbringende und nur ausgeborgte Buch seinem Besitzer zurückzubringen. Ansonsten möchte er auch nicht mehr weiterleben, er spürt, dass Bardur ihn ruft. Als er am Ziel ankommt, kann er dort kaum erzählen, was passiert ist, da bricht er vor Erschöpfung zusammen. Nach ein paar Tagen kommen schön langsam wieder die Lebensgeister und er beschließt, zumindest einmal einige Wochen hierzubleiben und weiterzuleben.

Neben der eigentlichen Handlung kommt aber sehr viel mehr beim Leser an, nämlich Stimmung, Menschen und ihre Schicksale, Lebenssituationen eben.

So leben die Isländer bereits Jahrhunderte auf dieser Insel, können aber allesamt nicht schwimmen, obwohl praktisch alle vom Fisch leben! Da verlassen sie sich lieber auf Gottes Segen; und so wird jede Handlung und jedes Ding von Segnungen begleitet: das Boot, das Paddel, das Wetter, einfach alles halt.

Gestandene starke Frauen kommen gehäuft vor. So hat eine bereits drei Ehemänner an das Meer verloren und kämpft sich mit ihren Kindern durchs Leben. Zuletzt steht sie im Haus eines Einzelgängers und beschließt (einseitig), dort eine Art Wohngemeinschaft zu etablieren. Ihre Gegenleistung wird sein, das Haus erstmal wieder in Schuss zu bringen und es dann auch in Schuss zu halten. Die Verkäuferin im Laden ist gerade mal zwanzig, führt dort aber das Kommando. Ihre scharfe Stimme kann den Schädel eines alten Seebären bis auf die Schultern spalten. Die Wirtin, bei der der Junge zuletzt landet, ist eine Witwe, die aber schon zu Lebzeiten ihres Mannes als resolut und emanzipiert galt.

Viele Szenen sind einfach herrlich und oft humorvoll beschrieben. Etwa wenn Helga, die Helferin der oben erwähnten Wirtin, einkaufen geht. Die anderen Kunden versammeln sich um die Theke, nur um zu sehen, wie Helga einfach so in die Tasche greift und Geld hervorholt. Echtes Geld! Auf diesen Anblick und dieses Geräusch haben alle gewartet, die sie selbst lediglich lange Listen vom ewigen Anschreiben kennen!

Eine sehr berührende Szene kommt ganz zum Schluss. Der alte, riesige, raubeinige Kapitän erzählt von einer einsamen Frau mit wunderschönen Augen. Sie haben bereits die Kindheit zusammen verbracht, sind mehr als dreißig Jahre verheiratet, aber nach neun Bieren fällt ihm nicht einmal mehr ihr Name ein.

Ich schätze, dass ich von den nächsten beiden Bänden der Trilogie sehr bald wieder was zu schreiben haben werde!


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