Dienstag, 16. Mai 2017

Javier Marías: So fängt das Schlimme an ★★★★★

Javier Marías: So fängt das Schlimme an 


Cover: S. Fischer


Er ist schon wirklich ein Meister seines Faches, dieser Javier Marías! 640 Seiten Spannung aufrecht zu erhalten, ohne dabei auf Mörder oder Explosionen zu setzen, muss ihm erst einmal jemand nachmachen! Er hält einen diese 640 Seiten locker bei der Stange, man kann dieses Buch nicht weglegen!

Hier gelingt es ihm, indem er die Verhältnisse in Spanien kurz nach Francos Tod mit einer unglücklichen Ehe verquickt: Wie geht eine Gesellschaft mit sich um, in der jeder vom anderen weiß, auf welcher Seite er in der Franco-Diktatur stand? Warum behandelt Eduardo seine Frau Beatriz derart schlecht, geradezu ekelhaft? Was ist da vorgefallen?

[Update 2017-05-23: Artikel der ARD zum Verkauf von Babys in der Franco-Zeit ergänzt]

Wir schreiben das Jahr 2014 und Juan, der Ich-Erzähler, erinnert sich an die 1980er-Jahre, als er als junger Mann von 23 Jahren dem Regisseur Eduardo Muriel bei seinen Arbeiten assistiert. Er lebt in dessen Wohnung in einem Kämmerchen, und dabei entgeht ihm natürlich nicht, wie zerrüttet die Ehe von Eduardo Muriel mit dessen Frau Beatriz Noguera ist. Die getrennten Schlafzimmer sind dabei noch das Harmloseste. Aber Eduardo hat für Beatriz nur Bezeichnungen wie Fettkloß, Weinfass und ähnliche parat. Dabei ist sie all das keineswegs, sogar Juan mit seinen 23 Jahren findet die doppelt so alte Beatriz sehr attraktiv. Scheidung ist nicht möglich, die gibt es 1980 in Spanien noch nicht.

Eines Tages gibt Eduardo seinem Assistenten einen etwas seltsamen Auftrag: er möge doch ein wenig spionieren und herausfinden, was es mit dem Doktor van Vechten, seinem alten Freund auf sich hat. Gerüchteweise habe er vernommen, dass sich van Vechten Frauen gegenüber sehr schlecht benommen habe oder vielleicht immer noch benimmt, er weiß es einfach nicht.

Juan nimmt den Auftrag an, kommt aber nicht recht weiter. Dafür sieht er eines Tages Beatriz auf der Straße und folgt ihr. Was er dabei zufällig entdeckt, kann ich hier beim besten Willen nicht verraten.

Eduardo zieht seinen Auftrag zurück, als ausgerechnet van Vechten der Arzt ist, der als erster zur Stelle war, als Beatriz einen Selbstmordversuch unternahm. Eduardo rechnet ihm das hoch an (ganz ist das Liebesflämmchen doch noch nicht erloschen) und will in Folge nicht mehr wissen, was es mit dem Gerücht über van Vechten auf sich hat; ja er verbietet Juan geradezu, es ihm zu erzählen, sollte er doch noch was herausfinden!

Und das tut er tatsächlich. Es hat etwas mit van Vechtens Vergangenheit in der Franco-Zeit zu tun, und wie er sich damals ärztliche Hilfeleistungen in Naturalien auszahlen ließ - am liebsten von den Müttern der Kinder, die er gerade behandelt hat. Aber gerade, als Juan Eduardo davon erzählen will, schneidet dieser ihm das Wort ab: er will es einfach nicht wissen!

Dieses Nicht-wissen-wollen wiederum hat etwas mit der Lebenserfahrung von Eduardo zu tun. In der großen Schlusserzählung (wie üblich bei Marías, könnte man fast sagen), erfahren wir auch, warum er seine Frau derart schlecht behandelt. Nach 12 Jahren Ehe hat sie ihm etwas erzählt, was sie besser für sich behalten hätte. Seitdem fühlte er sich verraten, weil er erkennen musste, dass sein Leben ganz anders verlaufen wäre. Ich muss hier wieder sehr vage bleiben, sonst verrate ich einfach zuviel!

Der Roman schließt damit, dass Juan noch kurz erzählt, wie die Geschichte weiterging, nachdem er Eduardo und Beatriz verlassen hatte. Wobei "kurz" bei Javier Marías relativ ist; kurz und schnell geht hier gar nix. Ein Gedankenblitz, der vielleicht eine halbe Sekunde dauert, wird bei ihm unter Umständen über mehrere Seiten ausgebreitet. Dabei ist aber kaum ein Wort zu viel, in dieser halben Sekunde stecken soviele Gedanken und Assoziationen, dass es eben so lange dauert, bis das alles beschrieben ist! Ich weiß, dass viele das als eher langweilig empfinden, ich finde es aber wirklich gelungen, wie er das macht.

Ich hab schon mehrere Werke von ihm gelesen; aber das ist jetzt mindestens der dritte Roman, den ich kenne, der um die Themen "hören", "Geheimnis", "aufgeschnappte Gesprächsfetzen" und "einfach einmal die Klappe halten" kreist. Man muss nicht alles erzählen, vor allem dann nicht, wenn dadurch man selbst und seine gesamte Umgebung aus den Fugen gerät! Das war schon so bei "Mein Herz so weiß" und jetzt eben wieder. Immer wieder kommen Sätze wie "Das Gehörte lässt sich nicht abwaschen wie ein Fleck", "man kann die Augen schließen, aber nicht die Ohren" oder "Ich will nicht mehr wissen, was van Vechten getan hat".

Ich war schon versucht, ihm wegen dieser Themenwiederholung einen Stern bei der Bewertung abzuziehen. Aber spätestens nach der Hälfte des Buches war das verziehen. Er bringt die Themen so spannend und meisterhaft erzählt rüber, dass vier Sterne einfach zu wenig wären. 

Ich hatte halt schon eine gewisse Marías-Erfahrung; wäre es mein erstes Buch von ihm gewesen, wären die fünf Sterne nie zur Diskussion gestanden!

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Die Vorwürfe gegen van Vechten sind zwar nicht ganz die, die in diesem Artikel der ARD beschrieben werden (Verkauf von Babys), sie gehen aber in diese Richtung.

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