Mittwoch, 23. Oktober 2024

Viktor Jerofejew: Der Große Gopnik ★★★★☆

 Viktor Jerofejew: Der Große Gopnik ★★★★☆

Cover: Matthes & Seitz

"Sputnik" kennt wohl jeder. Eines der wenigen Wörter aus dem Russischen, die weltweit bekannt sind.

Aber was ist ein "GOPnik"? GOP ist eine russische Abkürzung und steht für "Staatliches Wohnheim für das Proletariat" und seine Bewohner sind eben die Gopniks. Es entwickelte sich darin eine Subkultur, die sich durch Kleinkriminalität und Schlägertypen auszeichnete. Der Begriff Gopnik verselbständigte sich mit der Zeit und steht heute eben für einen Hinterhof-Schlägertypen.

Und einer aus St. Petersburg hat es im Kreml bis nach ganz oben geschafft – der Große Gopnik eben.

Viktor Jerofejew hat es lange ausgehalten im Land des Großen Gopniks, aber mit dem Überfall auf die Ukraine wurde ihm der Boden zu heiß; seine Familie und er flüchteten über Estland und Polen nach Deutschland.

Sein Bestreben ist es seither, den Begriff "Großer Gopnik" international bekannt zu machen und zu etablieren. Er soll so geläufig werden wie der "Sputnik".

In diesem Buch schildert er den Werdegang und die Gedankenwelt des Großen Gopniks. Aber nicht nur das, sondern das Buch ist sehr viel mehr!


Ich schreibe absichtlich "in diesem Buch". Denn ein Roman ist es meiner Meinung nach nicht. Aber was dann? Es ist eine Mischung aus Autobiografie mit großem fiktionalen Anteil, Anekdoten aus seinem Leben und eben die Analyse der Situation in Russland.

Dazu gehört natürlich der Große Gopnik selbst, aber auch das zugehörige Volk, das zu 80% oder mehr hinter ihm und seinem Krieg gegen die Ukraine steht.

Seiner Meinung nach tut es das aber nicht erst seit 2022, sondern schon immer. Die Russen sind seiner Meinung nach völlig abgestumpft gegenüber Gewalt und Unterdrückung und sind daher mit dem Großen Gopnik völlig einer Meinung und glücklich mit ihm. Die paar Protestierer werden schon sehen, wie ihnen geschieht.

Es gibt in Russland keinerlei demokratische Erfahrung; das Volk stand immer unter der Knute. Erst durch die Goldene Horde (Russland zahlte bis in die Zeit Peters des Großen Tribut an sie) gemeinsam mit den Zaren; später nur durch den Zaren; dann die Sowjets; und jetzt eben unter dem Großen Gopnik. Die neun Jahre unter dem stets betrunkenen Jelzin kann man vergessen. Da waren alle mit persönlicher Bereicherung beschäftigt, an Demokratie dachte da keiner.

Ich sage es noch einmal: Die Schwäche der russischen Autokratie ist so langzeiterprobt, dass es in der gesamten Geschichte Russlands nie etwas anderes gegeben hat als Autokratien mit unterschiedlichen Masken. Russland hat niemals Demokratie gelernt und begreift den Zaren als Ernährer des Volkes, als Herrn des ganzen Volkes, der uneingeschränkt alle richten wird und gegen den sich zu erheben heißt, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.

Dazu passt auch ins Bild, dass Michail Gorbatschow nur im Westen der große Held ist. In Russland gilt er als Zerstörer der Großmacht. Damals unter Stalin und Co. war Russland halt noch wer, die ganze Welt fürchtete sich vor ihm. Der Große Gopnik setzt diesem völlig unnatürlichen Zwischenzustand endlich ein Ende. (Kommt einem irgendwie bekannt vor: Make America/Russia great again.). Wir fangen mit der Ukraine an und setzen fort mit den Balten und den Polen – die in Russland sowieso einfach an allem schuld sind. Sogar das Massaker an den polnischen Offizieren in Katyn war ein Werk dieser Polen. Dieses Gedankengut ist wirklich weit verbreitet!

Der Große Terror unter Stalin, der Millionen Menschen das Leben kostete? Egal, war wohl notwendig, die da oben wissen schon, was sie tun. Wie gesagt, völlig abgestumpft.

Dieses Buch ist während der Corona-Zeit entstanden. Viktor Jerofejew verwendet daher auch diese Pandemie als Metapher für diese Gedankengänge. Er meint, die Seuche der Dummheit breitet sich über die Menschheit aus. Es ist ja nicht nur Russland betroffen, sondern auch die USA verblöden vor unseren Augen, auch Europa hat mit strammen rechten Parteien zu kämpfen, für die der Große Gopnik das große Vorbild ist. Und dann gab es ja auch noch den Brexit.

Kurze Leseprobe. In dieser Szene trifft der Autor mit dem Großen Gopnik im Kreml zusammen:

»Gäbe es keine Dummheit, wer wäre ich dann? Ein Petersburger KGBler?« [...] »Also kommen wir zur Sache, Sie raten uns, die Quelle der Dummheit abzudrehen, das Internet?«

»Schauen wir auf die Karte«, sagte ich. »Die Dummheit verbreitet sich über die Prärien der Vereinigten Staaten, den Mittleren Westen, wo sie immer schon viele bekennende und klammheimliche Anhänger hatte. Die Dummheit erhebt sich und überschwemmt als Lavastrom Großbritannien, ein gemäßigtes Land, das sich bis vor Kurzem nicht durch eine Vorliebe für Dummheit hervorgetan hat.«

Auf dem Gesicht des Großen Gopniks zeigte sich Zweifel.

»Die Dummheit stürmt Frankreich, wo eine populäre fremdenfeindliche Partei …«

»So eine Partei lasse ich mir gefallen!«, rief der Große Gopnik. »Das ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass der Liberalismus am Ende ist.«

»Die Dummheit ist mit Wucht über Deutschland und Österreich gekommen, und sie zwingt die Bevölkerung, sich mit Neonazis zu befassen.«

»Dort hat es schon immer jede Menge davon gegeben, die nicht unschädlich gemacht wurden«, zuckte der Große Gopnik mit den Schultern.


Diese Analyse nimmt vor allem den letzten Teil des Buches ein.

Davor gibt es zahlreiche Anekdoten aus Viktor Jerofejews Leben. Er wurde ja 1947 in den innersten Zirkel der Macht hineingeboren. Sein Vater war persönlicher Dolmetscher Stalins für französisch. Als Fünfjähriger steht er gemeinsam mit seinem Vater neben Stalin auf dem Podium und nimmt die Parade auf dem Roten Platz ab. Bei einer Familienfeier läutet das Telefon, klein Viktor wird geschickt, um abzuheben. "Gromyko [Außenminister, Anm.] hier, hol deinen Vater ans Telefon!". Kurz: Er kennt die russischen Machtzirkel von innen, das macht das Buch ja auch so authentisch!

Er war schon sehr früh literarisch tätig, allerdings nicht im Sinne der Mächtigen. So kostet eine geplante Literatur-Zeitschrift (Metropol) seinen Vater die diplomatische Karriere. Er wird schlagartig von der UNESCO (Wien) abgezogen und mit irgendeinem Job im Außenministerium abgespeist.

Diese Anekdoten sind zeitweise wirklich witzig geschrieben. Aber immer treffen seine Formulierungen den Nagel auf den Kopf. Sehr gelungen sind etwa die Szenen seiner Flucht im April 2022.

Dazwischen gibt es einige Kapitel, die etwas absurd sind, und die ich daher nicht wirklich verstanden hab. Sie passen irgendwie nicht zum Rest des Buches.


Ob ich das Buch weiterempfehlen würde? Ich weiß nicht so recht. Es gibt schon gewisse Längen und eben die erwähnten absurden Kapitel.

Aber was die Ausleuchtung der russischen Seele und des Großen Gopniks betrifft, gibt es derzeit wahrscheinlich kein Buch, das näher dran ist. Es ist – wie die FAZ schreibt – das Buch der Stunde!


PS: Der Verlag bietet auch ein großes Interview mit dem Autor als Podcast an!





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