Donnerstag, 13. Oktober 2016

Orhan Pamuk: Schnee ★★★★☆

Orhan Pamuk: Schnee 


Cover: Hanser Literaturverlage

Die Romane des türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk haben bisher bei mir eher gemischte Eindrücke hinterlassen: "Rot ist mein Name" fand ich sehr interessant; vor allem die Erzählstruktur mit mehr als 20 Ich-Erzählern! Etwas ermüdend waren die Langatmigkeit, die mich bei anderen Autoren nicht so stört, und die ewigen Wiederholungen. "Die weiße Festung" war ebenfalls langatmig, noch dazu fand ich die Geschichte schwach; da ist also etwas viel zusammen gekommen.

Ich war daher etwas skeptisch, was seinen großen Roman "Schnee" betraf. Er war schon lange auf der Warteliste, hab aber die Lektüre eben wegen dieser Skepsis immer wieder verschoben. Jetzt, nachdem ich das Buch beendet habe, finde ich meine Zweifel leider bestätigt. Ich würde es etwa so einstufen wie "Rot ist mein Name": Thematisch sehr interessant - aber mühsam. Ich war zeitweise sogar versucht, nur 3 statt 4 Sterne zu vergeben. Das würde diesem Roman aber denn doch nicht gerecht, denn über dem Durchschnitt ist er allemal!

Tauchen wir also ein in den Mikrokosmos von Kars, in dem die große Welt ihre Probe hält!



In der Rahmenhandlung versucht der türkische Schriftsteller Orhan, der in Deutschland lebt, die drei Tage in Kars zu rekonstruieren, die sein vor kurzem in Frankfurt ermordeter Freund Ka dort verbracht hatte. Was Orhan bisher weiß hat er hauptsächlich aus Briefen, er möchte aber auch Informationen aus erster Hand. Deshalb reist er nach Kars, befragt zahlreiche Personen und findet so schön langsam heraus, was sich vor vier Jahren hier abgespielt hat.

Die innere Handlung fand also vier Jahre zuvor statt; zeitlich einzuordnen ist sie etwa Mitte bis Ende der 1990er-Jahre.

Der Lyriker Kerim Alakuşoğlu nennt sich der Einfachheit halber Ka - eine Anspielung auf den Herrn K. aus Franz Kafkas Romanen. Er lebt seit Jahren in Frankfurt, aufgewachsen ist er aber in Istanbul; er ist von seiner inneren Einstellung daher eher westlich orientiert. Die Nachrichten aus Kars, wo mehrere kopftuchtragende Mädchen Selbstmord begangen haben, machen ihn neugierig. Außerdem lebt dort İpek, seine Jugendliebe aus Instanbuler Zeiten. İpek ist von ihrem Mann getrennt und so macht sich Ka auch Hoffnungen, diese alte Liebe wieder aufleben zu lassen und İpek nach Frankfurt holen zu können.

Als er in Kars ankommt, einer Stadt in der nordöstlichsten Ecke der Türkei, beginnt es heftig zu schneien. So heftig, dass die Stadt drei Tage lang von der Umwelt abgeschnitten ist; diese drei Tage stehen also im Zentrum des Romans.

Es würde zu weit gehen, den Inhalt hier genauer zu schildern. Es geht im wesentlichen um den Gegensatz zwischen kemalistischer, republikanischer Verwestlichung und traditioneller, islamgebundener Lebensform. Nebstbei spielen auch die Kurden eine zentrale Rolle. Es finden sich also alle Zutaten wieder, die auch in der gesamten Türkei Thema sind - damals wie heute. Raum und Zeit werden quasi eingedampft auf Kars und drei Tage. Dazu kommt noch die Abschottung von der Umwelt.

Die Schilderung der Ereignisse fällt dann eben etwas langatmig aus. Wirklich beeindruckend beschrieben sind aber die Szenen im Volkstheater: hier findet noch einmal eine Verdichtung statt. Auf der einen Seite der kemalistische Theaterintendant, auf der anderen Seite die eher islamisch geprägte Bevölkerung. Die Vorstellungen laufen eher rustikal ab; wenn das Publikum am erzieherischen Stück das Interesse verliert, holt die Frau des Intendanten es mit einer kleinen Bauchtanzeinlage zuverlässig wieder zurück. Und dann natürlich der Putsch und seine Folgen, der auf offener Theaterbühne buchstäblich "über die Bühne" geht und zahlreiche Tote zurücklässt.

Militär, Geheimdienste, Spitzel und Mikrofone sowie islamistische Agitatoren sind allgegenwärtig, ebenso die Gewalt und Willkür, der die Bevölkerung ausgesetzt ist. Auch diese Schilderungen fand ich sehr gelungen. Genauso wie die Zustände in der Redaktion der Grenzland-Zeitung: Artikel werden auf Zuruf der Mächtigen geschrieben. So kann es schon passieren, dass die Zeitung ihrer Zeit voraus ist und bereits am Vorabend von wichtigen Ereignissen des nächsten Tages aus Kars berichten kann!

Ka gelingt es beinahe, İpek dazu zu bringen, ihm nach Deutschland zu folgen - die Koffer sind bereits gepackt. Erst im letzten Moment zieht sie zurück. Orhan kommt bei seiner Rekonstruktion zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich das richtige Gespür hatte, das sie zu dieser Entscheidung brachte.

Der Roman ist 2002 erschienen, zu einer Zeit also, zu der die Islamisierung der türkischen Gesellschaft durch die AKP gerade einsetzte. Wobei man endlos darüber diskutieren könnte, ob es nicht vielleicht umgekehrt ist; dass also die AKP an der Macht ist, gerade weil die Gesellschaft islamisch geprägt ist. Der Roman ist also nach wie vor aktuell. Und so wie ich die Situation einschätze, wird er es noch eine ganze Weile sein. Das Gezerre zwischen dem westlich orientierten Istanbul und Anatolien, und damit verbunden die tiefe Spaltung der Bevölkerung, werden der Türkei und uns wohl noch länger erhalten bleiben.

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