Samstag, 3. Juni 2017

Karl-Markus Gauß: Zwanzig Lewa oder tot ★★★★☆

Karl-Markus Gauß: Zwanzig Lewa oder tot 


Cover: Zsolnay (Hanser)


Vier Reiseberichte in den Osten Europas in einem Band. Karl-Markus Gauß erzählt oft von Gegenden, in die sich normalerweise kein Tourist verirrt. Bei diesen vier Berichten trifft das aber höchstens auf die Republik Moldawien zu. Die anderen Reisen beschreiben Ziele, die zwar für die Meisten nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, die aber jetzt doch nicht soo exotisch sind.

Am persönlichsten ist ganz sicher der zweite Bericht, der von Novi Sad bzw. dessen heutigem Vorort Futog erzählt: von dort stammte nämlich seine Mutter.



Und genau deshalb hat er die Reise dorthin zu ihren Lebzeiten nie unternommen. Er hatte irgendwie eine Scheu davor, in das Land seiner Mutter zu fahren, das er von so vielen Erzählungen und Fotos kannte und deshalb eine ganz bestimmte Vorstellung davon hatte. Ich glaube, er hatte es nicht bewusst darauf angelegt, aber er wollte erst ihren Tod abwarten, bevor er sich dorthin "wagte".

Der erste Bericht erzählt von der schon erwähnten Republik Moldawien. Wie so viele Landstriche in dieser Gegend, war auch Moldawien über Jahrhunderte hinweg von fremden Mächten bestimmt. Jetzt, wo das Land endlich frei ist, wissen die Menschen nicht so recht, wohin mit sich. Eine Zeitlang war eine Vereinigung mit Rumänien im Gespräch; immerhin wird in Moldawien rumänisch gesprochen, und es gibt auch in Rumänien einen Landesteil "Moldau" (die berühmten Moldau-Klosterkirchen hatten wir 2015 besucht). Rumänien ist heute kein Thema mehr, also soll man sich eher an Russland orientieren? So ein Tanz mit dem russischen Bären kann durchaus heikel werden, Vorsicht ist angebracht! Oder selbstständig bleiben und sich der EU annähern? Das scheint heute der Weg zu sein, immerhin übt man schon Zaunbau und Grenzschutz am Pruth, dem Grenzfluss zu Rumänien.

Ein Extrakapitel ist noch den Gagausen gewidmet. Dieses Turk-Volk hat sich vor Jahrhunderten von den Türken gelöst, den Islam abgelegt und sich der Orthodoxie zugewandt. Sprachlich und geistig sind sie aber natürlich immer noch stark an die Türkei angelehnt: die Sprache ist türkisch mit nur leichten Modifikationen und der Handel ist nach der Türkei orientiert. Sie leben heute in einer autonomen Region der Republik Moldawien.

Die dritte Reise führt uns nach Zagreb. Diese Stadt hatte er zuvor schon einige Male besucht, zum ersten Mal in den 1980er Jahren. In Rückblenden stellt er immer wieder Vergleiche zwischen damals und heute an.

Und die vierte Reise geht nach Bulgarien und dort zu den wichtigsten Städten des Landes: Widin, Plovdiv, Russe und natürlich zur Hauptstadt Sofia. Hier erzählt er auch die Episode, die dem ganzen Buch dem Namen geben sollte. Ein Bettler baut sich vor den Besuchern auf und sagt auf deutsch, weil er aus deren Gesprächen erfahren hatte, dass die deutsch sprechen: "Zwanzig Lewa oder tot!". Das war aber kein Raubüberfall, sondern gemeint war, dass ihm, dem Bettler, einzig diese zwanzig Lewa das Überleben sichern würden, ansonsten er umgehend tot wäre!

Für alle vier Reiseberichte gilt, dass sie überaus lebendig und flott erzählt werden. Wenn Plätze oder Personen oder Situationen geschildert werden, hat man als Leser immer das Gefühl, den Autor zu begleiten und praktisch neben ihm zu stehen und alles live mitzuerleben. Ob das jetzt die Schlaglochpisten in Moldawien sind oder die Versammlung des Literaturvereines in Zagreb; oder als sie verhaftet werden, weil sie ja unbedingt den Grenzzaun am Pruth besichtigen müssen; oder, oder oder. Gerade Moldawien und Novi Sad sind so genau und interessant beschrieben, dass man durchaus Lust bekommt, selbst hinzufahren!

Durch seine internationalen Verbindungen, die er über sein Literaten-Dasein hat, stehen ihm auch überall kompetente lokale Fremdenführer zur Verfügung, die ihm Türen öffnen, die anderen sonst verschlossen blieben. Dankenswerter Weise schreibt er dann darüber und wir dürfen daran teilhaben.


2 Kommentare:

  1. Habe von Gauß gerade "Im Wald der Metropolen" gelesen. Kann ich ebenfalls sehr empfehlen.
    lg, ks

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  2. Vielen Dank für den Hinweis!
    Klingt sehr interessant und ist daher schon auf der Wartliste!

    lg, Andreas

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