Samstag, 28. Mai 2016

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit ★★★★☆

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus 

Cover: suhrkamp


Titel und Inhalt des Buches haben mich angesprochen, außerdem wurde die Autorin Swetlana Alexijewitsch 2015 mit dem Literatur-Nobelpreis belohnt.

Sie versucht darin die Fragen zu beantworten, warum so viele Russen der alten Sowjet-Zeit nachtrauern, warum immer noch so viele Stalin-Porträts in den Wohnungen hängen und warum Putin soviel Rückhalt in der Bevölkerung hat. Fragen, die mich ebenfalls interessieren. Ich erhoffte mir von diesem Buch also, die russische Seele etwas besser zu verstehen.

Um es kurz zu machen: das gelingt ihr ganz ausgezeichnet! Die Methode, die sie dabei anwendet ist relativ simpel: sie lädt die unterschiedlichsten Leute zu ausführlichen Interviews ein und schreibt einfach mit. Im Buch verwendet sie dann einzelne Abschnitte daraus und mischt diese zu einer Art Collage zusammen. Auf diese Weise bekommt man als Leser einen sehr guten Eindruck, wie die Russen (vor allem außerhalb der großen Städte wie Moskau und St. Petersburg) ticken. 

Diese Collage-Technik verwendet sie vor allem im ersten Teil des Buches. Der zweite Teil enthält dann längere und zusammenhängende Beschreibungen von Einzel-Schicksalen. Meist dreht es sich dabei um Verfolgung, Bürgerkrieg, Vertreibung und was es heißt, als Flüchtling in der Fremde zu leben - mit all den fürchterlichen Erinnerungen an die ehemalige Heimat im Kopf.

Ich hab zahlreiche, ganz typische Zitate im Buch markiert und werde es jetzt einfach so machen wie sie selbst: diese Zitate kommentarlos hinschreiben.

Da kam ich eines Tages aus der Schule, hab mich hingelegt, und am Morgen konnte ich nicht aufstehen. Sie brachten mich zum Arzt – er konnte nichts feststellen. Also zu einer weisen Frau … einer Heilerin … Wir bekamen eine Adresse … Die Alte legte Karten und sagte zu meiner Mutter: »Wenn Sie nach Hause kommen, schlitzen Sie das Kissen auf, auf dem Ihre Tochter schläft. Dort werden Sie ein Stück von einem Halstuch finden und Hühnerknochen. Den Stoff hängen Sie an ein Kreuz am Wegesrand, die Knochen geben Sie einem schwarzen Hund. Dann wird Ihre Tochter aufstehen und wieder gehen. Das Mädchen wurde verhext
Und dann war da noch Onkel Pawel, der hat in Sibirien bei den NKWD-Truppen gedient … Verstehen Sie, das Böse, das ist nie chemisch rein … Das sind nicht nur Stalin und Berija … Das sind auch Onkel Jura und die schöne Tante Olja …
Nächtelang saß ich und las, durchforstete Aktenbände. Ganz ehrlich … ich sage Ihnen ehrlich … Mir standen die Haare zu Berge … Der Bruder denunzierte den Bruder, der Nachbar den Nachbarn …
Die Gespräche drehten sich natürlich vor allem um eines: Freiheit. Unsere Menschen brauchen die Freiheit wie ein Affe eine Brille. Niemand weiß damit etwas anzufangen.
Wodka ist heute wertvoller als … wie heißt das gleich? Na, der amerikanische Dollar. Für Wodka kriegt man bei uns alles. Da kommt sogar der Klempner, der Elektriker. Sonst nicht.
Ein ungebildeter sowjetischer Arbeiter hat das Geheimnis nichtrostenden Stahls erfunden – ein Sieg! Dass dieses Geheimnis der ganzen Welt längst bekannt war, erfuhren wir erst später.
Unser Priester ist ein ehemaliger Offizier, in seinen Predigten geht es dauernd um die Armee, um die Atombombe. Um die Feinde Russlands und um Freimaurer-Verschwörungen. Doch ich wünsche mir andere Worte … ganz andere … Nicht solche. Aber überall höre ich nur das … So viel Hass …
 Also waren alle Dummköpfe, die ihr Leben für andere hingegeben haben. Für erhabene Ideale. Nein! Nein! Gestern stand ich im Laden an der Kasse … Eine alte Frau vor mir zählte die Kopeken in ihrem Portemonnaie, sie zählte und zählte und kaufte schließlich hundert Gramm von der billigsten Wurst … »Hundewurst« … und zwei Eier. Ich kenne sie … sie hat ihr ganzes Leben als Lehrerin gearbeitet …
Das ganze Geschrei von der Größe Russlands – das ist totaler Scheiß. Kostümierte Patrioten! Sitzen vor der Zombiekiste. Die sollten mal fünfzig Kilometer aus Moskau rausfahren … Sich die Häuser ansehen, sich ansehen, wie die Leute da leben. Wie sie sich an Feiertagen besaufen … Auf dem Land gibt’s kaum noch Männer. Die sind ausgestorben. Ein Bewusstsein wie Hornvieh – saufen sich zu Tode. Bis sie umkippen.
1989 wurde ich auf eine Dienstreise nach Vilnius geschickt. Vor der Abreise rief mich der Chefingenieur unseres Betriebes zu sich (er war schon dort gewesen) und warnte mich: ›Sprich dort nicht russisch. Sie verkaufen dir nicht mal Streichhölzer, wenn du russisch sprichst. Hast du dein Ukrainisch noch parat? Rede ukrainisch.‹
Unser Staat hat immer im Zustand der Mobilmachung existiert. Von den ersten Tagen an. Für das friedliche Leben war er nicht gedacht. Und dann … Meinen Sie, wir hätten nicht massenweise moderne Frauenstiefel und schöne Büstenhalter produzieren können? Oder Plastik-Videogeräte? Jederzeit. Aber wir hatten andere Ziele … Und das Volk? (Pause.) Das Volk wünscht sich einfache Dinge. Zuckerbrot im Überfluss. Und - einen Zaren!
Bei den Tschechen ist ein Václav Havel möglich, wir aber brauchen keinen Sacharow, wir brauchen einen Zaren. Ein Väterchen Zar! Ob Generalsekretär … oder Präsident – bei uns ist das immer ein Zar … (Lange Pause.)
Perestroika … das hatte etwas Großes … (Pause.) Nach einem Jahr wurde unser Konstruktionsbüro geschlossen, und meine Frau und ich standen auf der Straße. Wie wir gelebt haben? Wir haben alles, was Wert hatte, auf den Markt getragen. Kristall, sowjetisches Gold und das Wertvollste, das wir besaßen – Bücher. Wochenlang haben wir uns nur von Kartoffelbrei ernährt. Ich zog ein ›Geschäft‹ auf. Ich verkaufte auf dem Markt Kippen.
Der Kommunismus ist wie das Alkoholverbot: eine gute Idee, aber sie funktioniert nicht.
Und lebten das sowjetische Leben, in dem einheitliche Spielregeln galten, an die sich alle hielten. Da steht zum Beispiel jemand auf einer Tribüne. Er lügt, und alle klatschen, aber alle wissen, dass er lügt, auch er weiß, dass alle wissen, dass er lügt. Aber er sagt das alles und freut sich über den Beifall.
Alte Kochrezepte wurden ausgegraben … was die Leute im Krieg gegessen hatten … In entlegenen Ecken in Parks und auf Bahndämmen wurden Kartoffeln angebaut … Wochenlang nichts zu essen als Kartoffeln – ist das Hunger oder nicht? Oder nichts als Sauerkraut? Ich kriege für alle Zeiten keins mehr runter. 
Alle träumten von einem neuen Leben … Träumten … Träumten von massenhaft Wurst an den Ladentheken, zu sowjetischen Preisen, und dass die Politbüromitglieder sich wie alle anderen danach anstellen würden. Wurst als Maß aller Dinge. Die Liebe zur Wurst ist bei uns etwas Existentielles … 
In unserer Partisaneneinheit gab es ein junges Mädchen, Rosotschka, ein hübsches jüdisches Mädchen, sie schleppte ständig Bücher mit sich herum. Sechzehn war sie. Die Kommandeure schliefen reihum mit ihr … »Ihre Haare da unten sind noch wie bei einem Kind … Haha …« Rosotschka wurde schwanger … Sie führten sie ein Stück tiefer in den Wald und erschossen sie wie einen Hund. 
Ich werde als Kommunist sterben. Die Perestroika ist eine Operation der CIA zur Vernichtung der UdSSR. 
Unsere Frauen müssen stärker sein als die Männer. Sie reisen mit ihren karierten Taschen durch die ganze Welt. Von Polen bis nach China. Kaufen und verkaufen. Auf ihren Schultern ruhen Haushalt, Kinder und die alten Eltern. Und ihre Männer. Und das Land. Das kann man keinem Fremden erklären … 
Meine Mama kam mich abholen, als ich in die sechste Klasse ging. Zwölf Jahre hatte sie im Lager gesessen, drei Jahre waren wir zusammen gewesen, neun Jahre getrennt. Nun wurden wir in die Verbannung geschickt und durften zusammen dorthin fahren. 
Mein Sohn hat dort ein Grundstück … Nicht sehr angenehm, wissen Sie … Auf dem Kartoffelbeet kommen im Frühjahr vom Schnee und vom Regen ständig Knochen hoch. Das stört niemanden, alle haben sich daran gewöhnt, die ganze Erde hier ist voll davon wie anderswo mit Steinen. 
Sie wollen hören, dass ihr Leben groß war und nicht vergebens und dass sie an etwas geglaubt haben, woran zu glauben sich lohnt. Und was bekommen sie zu hören? Sie hören von allen Seiten, dass ihr Leben absolute Scheiße war, dass sie nichts hatten als ihre schrecklichen Raketen und Panzer. 
Ich bin nicht einverstanden mit der Verteilung des fetten Kuchens UdSSR, mit der Privatisierung. Ich mag die Reichen nicht. Im Fernsehen geben sie an mit ihren Palästen, ihren Weinkellern … Meinetwegen sollen sie in goldenen Wannen voller Muttermilch baden. Aber warum zeigen sie mir das? Ich kann nicht mit ihnen zusammenleben. Das ist kränkend. Beschämend. Und ich werde mich nicht mehr ändern. Ich habe zu lange im Sozialismus gelebt. Das Leben ist besser geworden, aber widerwärtiger. 
Beten muss man, nicht auf Kundgebungen laufen. Der HERR hat uns Putin geschickt … 
Sie suchen besonders nach Häusern, in denen reiche Armenier wohnen …In einem Haus haben sie alle getötet … Doch das kleinste Mädchen war auf einen Baum geklettert … Sie schossen auf sie wie auf einen Vogel … Nachts sieht man schlecht, sie trafen lange nicht … Sie wurden wütend … und zielten immer wieder … Bis sie ihnen vor die Füße fiel … 
Ein Mann ist nie älter als vierzehn« – diesen klugen Satz hat meine Mutter mir mitgegeben. 
Sie haben auch dort getrunken, daraus machen sie gar keinen Hehl: »Ohne hundert Gramm Wodka schafft es der russische Soldat nicht bis zum Sieg«, »Wirf einen Russen in der Wüste ab – nach zwei Stunden ist er betrunken, aber Wasser findet er nicht«. Sie tranken Methylalkohol und Bremsflüssigkeit … Aus Dummheit und im Suff traten sie auf Minen … 
Doch dann war klar, dass auch die Demokraten vor allem ein schönes Leben wollten. Darüber haben sie uns vergessen. Der Mensch ist Staub … ein Staubkorn … Das Volk hat sich wieder den Kommunisten zugewandt … Unter denen gab es keine Milliardäre, alle hatten wenig, aber es reichte für alle. Jeder fühlte sich als Mensch. Ich war wie alle. 
Ihr redet uns ein, Russland sei unser Zuhause, aber ich muss wegen meiner tschetschenischen Visage jeden Tag die Miliz schmieren, damit sie mich nicht zu Tode prügeln. 

Leid, Verfolgung, Gewalt, Folter, Verbannung, Vertreibung und Bürgerkrieg durchziehen dieses Buch. Das ist zwar einerseits aufschlussreich, andererseits aber psychisch äußerst anstrengend und aufwühlend. Allein von all dem auch nur zu lesen lässt einem die Haare zu Berge stehen. Aber die erzählenden Menschen haben das alles selbst erlebt...

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Und trotzdem stehen bereits weitere Bücher von Swetlana Alexijewitsch auf meiner Warteliste. Ich hab in einige bereits ein wenig reingelesen und festgestellt, dass sie praktisch immer mit dieser Technik der Collage arbeitet.

Diese Technik der "oral history" ist allerdings nicht neu. Tausende Soziologen, Ethnologen und Historiker vor ihr haben das bereits gemacht.

Der literarische Beitrag der Autorin zu ihren Büchern ist dabei aber nahezu null. Auch wenn sie irrsinnig interessant sind: warum sie dafür den Nobelpreis bekommen hat, verstehe ich nicht so recht. Da hätte es unzählige andere Anwärter gegeben, deren literarische Schöpfung ungleich größer wäre!

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