Donnerstag, 10. März 2016

Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle ★★★★☆

Shereen El Feki: Sex und die Zitadelle 


Cover: Hanser

Shereen El Feki (*1968, Mutter aus Wales, Vater aus Ägypten) ist Biochemikerin und Immunologin und war als solche jahrelang im Auftrag der UNO in Sachen AIDS-Aufklärung und -Prävention im arabischen Raum unterwegs. 1998 entdeckte sie ihre schriftstellerische Ader und war im Economist und bei Al-Dschasira als Gesundheits-Journalistin tätig.

Für dieses Buch legte sie diese ihre beiden Fähigkeiten zusammen und schrieb ihr Wissen über arabische Gesellschaften, das sie im Lauf der letzten Jahre gesammelt hatte, nieder. Aufgrund ihrer Abstammung liegt der Schwerpunkt des Buches sicher bei Ägypten, sie beschreibt aber wirklich den gesamten arabischen Raum vom Libanon über die Golfstaaten bis Marokko.

Im Vorwort schreibt sie: "Sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen sind eng mit Religion, Tradition, Kultur, Politik und Ökonomie verknüpft". Und: "Wenn Sie ein Volk wirklich verstehen wollen, beginnen Sie damit, dass Sie einen Blick in seine Schlafzimmer werfen".

Genau das hat sie die Jahre zuvor ja gemacht.

Anfang 2012 schloss sie die Arbeiten zu diesem Buch ab. Die Revolution in Ägypten war inzwischen ein Jahr alt, islamistische Strömungen wurden immer stärker und die Präsidentenwahlen standen kurz bevor. Die Stichwahl hat dann der Vertreter der Muslimbruderschaft (Mohammed Mursi) mit 51,7% knapp aber doch gewonnen. Das sollte man als Leser immer im Hinterkopf behalten. Denn viele ihrer Interviewpartner sprechen von ihren Hoffnungen, die sie in die Zukunft nach 30 Jahren Mubarak legen, aber auch davon, dass von den Hoffnungen nicht viel übrig bleiben könnte, wenn die Islamisten tatsächlich an die Macht kommen sollten (was sie mit Mursi dann ja auch taten).

Sie beginnt mit einer historischen Betrachtung. Sie berichtet, dass vor dem 19. Jahrhundert der arabische Raum sehr offen mit Sexualität umging. Zahlreiche, jahrhundertealte, sehr detailreiche Literatur zeugt davon. Europäer waren oft darüber erstaunt (zB Flaubert), was in arabischen Bordellen alles möglich war.  
Aber dann gab es einen Knick, der von vielen mit der Kolonialisierung in Verbindung gebracht wird. Die Einstellung zur Sexualität wurde enger und dieser Vorgang wurde als Gegenbewegung zu den Kolonialherren betrachtet, sinngemäß zusammengefasst etwa "Die verklemmten Westler kommen zu uns und stellen hier all das an, was sie zu Hause nicht dürfen. Möchten wir wirklich zu ihrem Freudenhaus verkommen?"

Den Großteil des Buches (nach der historischen Einleitung) nehmen dann aber die unterschiedlichsten Aspekte der Sexualität ein: von Unterwäsche und Vibrator über den Jungfrauenwahn und den Heiratsmarkt, verschiedene Formen der Ehe, die der Islam erlaubt, Gewalt gegen Frauen in und außerhalb der Ehe sowie behördliche Willkür, Belästigung auf der Straße, Prostitution, Homosexualität, Verhütung, Abtreibung, die unselige Genitalverstümmelung bei Mädchen oder was es generell heißt, eine Frau in einem strengen patriarchalischen Regime zu sein, bis hin zu den speziellen Problemen von Transsexuellen (Liste bei weitem unvollständig). Diese Kapitel sind sehr ausführlich gehalten und bekommen durch die Interviews mit Betroffenen einen ganz persönlichen Charakter. Sie beschränkt sich allerdings nicht nur auf Anekdoten, sondern verweist im sehr umfangreichen Anhang auf die jeweiligen empirischen Studien oder Erhebungen.

Im letzten Kapitel gibt sie einen Ausblick, wie es weitergehen könnte. Sie ist insgesamt vorsichtig optimistisch, ist sich aber bewusst, dass ihr Optimismus vielleicht ihrer Abstammung geschuldet ist. Jedenfalls spricht sie von Jahrzehnten und Generationen und nicht nur von Jahren.

Da das Buch bereits 2012 endet und die Entwicklung seitdem natürlich fortschreitet, schreibt Shereen El Feki das Buch online quasi weiter. Auf ihrer Website berichtet sie über aktuelle Entwicklungen.

Für mich erstaunlich war, wie stark die Religion im täglichen Leben verankert ist und dessen Verlauf beeinflusst. Nicht, dass ich das vorher nicht auch schon gewusst hätte, aber das Ausmaß hat mich dann doch überrascht. Selbst Mitglieder von Randgruppen und Minderheiten, die wirklich genug Probleme haben, würden nichts unternehmen, was gegen die Religion wäre. Insofern bin ich nicht sehr optimistisch, was eine Verbesserung ihrer Situation betrifft. Die sexuelle Revolution mag vielleicht stattfinden, aber nur in Zeitlupe und in homöopatischen Dosen.

*******

Wie bin ich eigentlich auf dieses Buch gestoßen? In zahlreichen Artikeln nach den Gewaltakten zu Silvester in Köln wird dieses Buch positiv erwähnt (zB in der FAZ), sodass ich neugierig wurde. Und ich wurde nicht enttäuscht - sehr lesenswert!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen