Letztes Wochenende verbrachten Jutta und ich in Hamburg. Mein letzter Aufenthalt in der Hansestadt ist schon 17 (!) Jahre her, eine Dauer, die einen weiteren Besuch schon allein dadurch rechtfertigen würde.
Aber Anlass für diese Reise war etwas ganz anderes.
Anfang des Jahres kamen mir mehrere Berichte über ein Theaterereignis am Deutschen Schauspielhaus unter, nämlich ein "Antikenmarathon" namens "Anthropolis": Fünf Theaterstücke an drei Abenden!
Am euphorischsten war der Bericht in der Frankfurter Allgemeinen. Hier ein kleiner Auszug:
„Es ist das bedeutendste Theaterereignis der Saison. Wer sehen will, was das deutsche Theater noch kann, was es zu bieten und zu beweisen hat, der kann das hier tun. An drei aufeinanderfolgenden Tagen zeigt das Hamburger Schauspielhaus seine Antiken-Pentalogie, fünfmal hebt es an, um die Geschichte der Stadt Theben und ihrer schicksalhaften Bewohner zu erzählen. Es ist, in so dichter Folge betrachtet, ein euphorisierendes Erlebnis. […] Hier in Hamburg feiert das erzählerische Theater einen Triumph, hier bringen herausragende Schauspielerinnen und Schauspieler Stimmen und Stimmungen zu Gehör, die einem durch Mark und Bein fahren, aber immer wieder auch ausgelassenes Gelächter erlauben – […] Das ist das, was wir sehen wollen.“
So euphorisch, dass ich spontan beschloss: Das muss ich sehen!
Der Entschluss war eben spontan und schnell gefasst, rasch noch Ticket für das Schauspielhaus kaufen sowie Hotel und Flug buchen – Hamburg, wir kommen!
Was soll ich sagen: Am Sonntag war die letzte Vorstellung und ich bin immer noch tief beeindruckt von dem, was ich da erleben durfte. Fünf Stücke, dargestellt auf höchstem Niveau, mit Themen, die schon die alten Griechen beschäftigten, die aber heute so aktuell sind wie eh und je.
Von diesem Wochenende werde ich noch lange zehren!
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Vor Beginn von "Laios". Links im Hintergrund ist schon Lina Beckmann zu sehen, die in den nächsten eineinhalb Stunden ein phänomenales Solo bieten wird. |
Gezeigt werden aber nicht fünf Stücke der antiken griechischen Autoren (Sophokles & Co), sondern diese fünf Stücke sind erst 2023 entstanden! Roland Schimmelpfennig erzählt die Geschichte und die Geschichten rund um Kadmos, Theben, Sphinx, Ödipus, Dionysos, Antigone und wie sie alle heißen, völlig neu. Dabei ist keinerlei Vorwissen vorausgesetzt, man kann als Zuseher des Jahres 2025 dem Inhalt folgen, ohne die 2300 Jahre alten Klassiker intus haben zu müssen!
Alle reden von den fantastischen Inszenierungen. Dabei wird aber leider ein wenig diese großartige Leistung des Autors überdeckt! Daher möchte ich diese hier extra hervorheben!
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Ich sag's gleich vorweg. Die nun folgenden Beschreibungen der einzelnen Stücke ergeben eine gewisse Länge. Wem das zuviel ist, dem kann ich eine tolle Kurzfassung (11 Minuten!) der Antigone anbieten. Sie zäumt das Pferd sozusagen von hinten auf, indem sie das letzte Stück des Marathons erzählt. Sie enthält aber auch ein wenig Vorgeschichte, sodass man die Antigone versteht!
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Prolog
In diesem halbstündigen Prolog wird von der Gründung Thebens berichtet und dabei werden auch die handelnden Personen und Götter vorgestellt.
Zeus hat in Gestalt eines Stieres Europa entführt. Er lässt sie auf seinem Rücken sitzen und schwimmt mit ihr über das Meer weit weit weg. Europas Bruder Kadmos sucht sie in ganz Griechenland, kann sie aber nirgends finden. Das Orakel rät ihm, die Suche aufzugeben, sie ist sinnlos, er wird sie nicht finden. Er soll stattdessen eine Kuh vor sich hertreiben, und dort, wo die Kuh zusammenbricht, soll er eine Stadt gründen.
Gesagt, getan. Die Kuh bricht an einer Quelle zusammen, die aber leider von einem Drachen bewacht wird. Kadmos kann diesen Drachen töten. Er entnimmt ihm die Zähne und sät sie aus. Urplötzlich wachsen aus diesen Zähnen Krieger aus dem Boden, die sich sofort gegenseitig umbringen, nur fünf bleiben übrig. Mit diesen gründet Kadmos die neue Stadt Theben. In Griechenland, nicht zu verwechseln mit dem Theben Oberägyptens.
Theben hat also bereits bei seiner Gründung eine gewaltsame Vorgeschichte. Dabei wird es nicht bleiben. Mehrere folgende Generationen wird diese Gewalt nicht mehr loslassen.
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Gleich nach der Pause, veranstaltete Lina Beckmann noch eine Weinverkostung auf der Bühne (Dionysos ist ja der Gott der Sinnlichkeit, des Weines und der Feste. Passend also zum kommenden Stück). 15 Minuten lang wird da die Sprache und das blumige Vokabular der professionellen Weinverkoster nicht durch den Wein, sondern durch den Kakao gezogen. Unglaublich heitere Stimmung im Theater!
Dionysos
Dionysos hat eine spezielle Beziehung zu Theben. Seine Mutter ist nämlich Semele, eine Tochter des Kadmos. Nach Jahren kommt er nach Theben zurück und fordert Bewunderung und Anbetung.
Inzwischen ist die Herrschaft über Theben aber von Kadmos auf seinen Sohn Pentheus übergegangen. Und der verweigert diese Anbetung. Er vertritt Aufklärung und Vernunft und kann mit dem alten Götterzeug nichts anfangen.
Dionysos entführt daraufhin sämtliche Frauen Thebens in die Berge und feiert dort mit ihnen wilde Orgien, Feste des Weines und der Sinnlichkeit. Pentheus würde gerne wissen, was da in den Bergen vorgeht, verkleidet sich als Löwe und beobachtet heimlich von einem Baum aus die Szene. Er wird aber entdeckt und von den aufgeputschten Frauen – ganz vorne dabei seine Mutter Agaue – mit bloßen Händen zerrissen. Erst als sie wieder in Theben zu sich kommt, bemerkt Agaue, was sie mit ihrem Sohn angestellt hat.
Dionysos hat seine Macht demonstriert: Schluss mit Aufklärung, die Religion hat gesiegt. Da ist es schon, das aktuelle Thema.
Mitten im Stück, als die Feste in den Bergen geschildert werden, gibt Dionysos den Befehl "Schlagt die Trommeln". Darauf ist die Bühne plötzlich voll von Trommel. 15 Minuten lang werden jetzt diese Trommel geschlagen und speziell diese Performance wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Tief beeindruckend.
Nach dem Lärm kommt die Ernüchterung. Agaue glaubt immer noch, den Kopf eines Löwen wie ein Nachziehspielzeug hinter sich herzuziehen. Erst nach und nach erkennt sie, dass der Kopf nicht zu einem Löwen gehört. In diesen letzten Szenen ist es im Haus mucksmäuschenstill, man hätte wahrscheinlich eine Nadel auf den Teppichboden fallen gehört.
Roland Schimmelpfennig hat die "Bakchen" des Euripides super neu erzählt: Klar und verständlich.
Agaue wird von Lina Beckmann grandios und tief ergreifend gespielt. Schon ein toller Vorgeschmack auf den nächsten Tag mit "Laios".
Laios
Die Stadt Theben versinkt in Gewaltexzessen. Als Labdakos, ein Enkel des Stadtgründers Kadmos, stirbt, holt man Laios aus dem Exil zurück.
Laios versucht es wieder einmal mit der Vernunft und erklärt der Stadt, dass er mit eben dieser Vernunft zu regieren gedenkt.
Seine Ehe mit Iokaste bleibt seltsamerweise ohne Kinder, in der Stadt laufen die diversesten Gerüchte. Tatsächlich aber wurde ihnen vom Orakel geraten, kinderlos zu bleiben. Denn falls sie doch einen Sohn bekommen sollten, würde der später seinen Vater erschlagen und seine eigene Mutter heiraten. Die Ödipus-Geschichte kündigt sich an.
Vor der Stadt hockt eine seltsame Gestalt, teils Frau, teils Katze, teils Vogel. Sie stellt rätselhafte Fragen und wer sie nicht richtig beantworten kann, stirbt. Sie treibt die Stadt damit natürlich in den Wahnsinn und die Bewohner fordern von Laios, dass er sie beschützt.
Ich hab jetzt schon viele Personen genannt, die eigentlich auf der Bühne stehen sollten. Tatsächlich tut das aber nur Lina Beckmann, die alle diese Rollen übernimmt! Dazu noch den Chor und den Erzähler!
Eine schier unglaubliche, sagenhafte Leistung einer Einzel-Schauspielerin, die beim tosenden Schluss-Applaus das Publikum aus den Sitzen reißt!
Ödipus
Die wahrscheinlich bekannteste Geschichte aus dieser Stadt.
Laios und Iokaste wird vom Orakel abgeraten, Kinder in die Welt zu setzen. Denn wenn sie einen Sohn bekommen, wird der später einmal seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten. Jahrelang bleibt die Ehe daher kinderlos.
Als aber dann doch ein Sohn geboren wird, sind sich die Eltern einig, dass der Sohn verschwinden muss. Sie bringen es aber nicht übers Herz, das Kind zu töten. Sie durchbohren ihm daher "nur" die Füße, ziehen ein Seil durch, sodass er am Gehen gehindert ist, und übergeben ihn einem Hirten mit dem Auftrag, das Kind in der Wildnis auszusetzen. Der schafft das aber auch nicht, sondern übergibt den Knaben einem befreundeten Hirten, der ihn schließlich seinem Herrscherpaar übergibt, das ihn wie einen Sohn aufnimmt. Ödipus betrachtet dieses Paar als seine Eltern.
Als Erwachsener macht er sich auf den Weg nach Theben. An einer Engstelle begegnet ihm sein leiblicher Vater, den er aber natürlich nicht als solchen wahrnimmt – er kennt ihn ja nicht. Umgekehrt erkennt aber auch Laios seinen Sohn nicht. Die beiden Sturschädel wollen nicht ausweichen und geraten in Streit, in Zuge dessen Ödipus seinen Vater erschlägt. Teil eins der Vorhersage wird schreckliche Wirklichkeit.
Am Eingang zur Stadt hält ihn die Sphinx noch mit ihrem Rätsel auf. Als er die richtige Antwort nennt, stürzt sich die Sphinx in die Tiefe und damit in den Tod (wo sie doch fliegen kann? Man muss nicht alles verstehen!). Egal. Ödipus wird damit zum Retter der Stadt und als neuer Herrscher anerkannt.
Was braucht ein Herrscher am dringendsten, um eine Dynastie zu gründen? Richtig. Iokaste, seine eigene Mutter ist eh schon da und bietet sich an. Die beiden heiraten, bekommen vier Kinder und erfüllen damit den zweiten Teil der Weissagung!
Ödipus versucht es wieder einmal mit der Vernunft. "Wenn man Getrappel hört, ist es eher wahrscheinlich, dass es ein Pferd ist und nicht ein geflügelter Pegasus" ist sein Motto.
Die Stadt blüht auf. Bis eine Pestepidemie in der Stadt wütet. Da ist es schnell vorbei mit der Vernunft. Apollon und die anderen Götter werden wieder wichtig, eine Priesterin und der blinde (!) Seher Teiresias (ja, sowas gibt's halt in der Mythologie) machen Stimmung gegen Ödipus.
Gerüchte über die Herkunft dieses Ödipus kommen auf. Er selbst will Aufklärung darüber und bekommt sie tatsächlich. Der alte Hirte von damals erzählt ihm, wie das gelaufen ist mit seiner Aussetzung und wessen Sohn er wirklich ist. Erschüttert über diese Erkenntnis blendet er sich selbst.
Zynischer Schlusssatz der Priesterin: "Wenn man Getrappel hört, ist es vielleicht ja doch ein geflügelter Pegasus!" Die Vernunft hat gegenüber der Religion wieder einmal den Kürzeren gezogen.
Wieder ist es Roland Schimmelpfennig gelungen, diese Geschichte klar, verständlich und voller Spannung neu zu erzählen. Und das Ensemble hat dieses Stück wieder grandios umgesetzt!
Wieder ein großartiger Abend!
Iokaste
Ödipus hat sich aus dem Spiel genommen, seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes übernehmen die Herrschaft. Und zwar abwechselnd: Ein Jahr der eine, das andere sein Bruder. Wie zu erwarten, geht das nur kurze Zeit gut. Eteokles verweigert den Machtwechsel, bedroht seinen Bruder mit dem Tod, der weicht ins Exil aus und wird von einem benachbarten Königspaar großgezogen.
Nach Jahren kommt Polyneikes zurück – allerdings nicht allein, sondern mit einer Armee, die ihm sein Ziehvater zur Verfügung stellt. Er fordert seinen Bruder zum Kampf um Theben.
Die Mutter der beiden, Iokaste, zwingt die beiden dreimal an den Verhandlungstisch, dreimal verlangt sie eine Verhandlungslösung.
Aber die beiden Streithähne rücken nicht von ihren Standpunkten ab. Polyneikes beschuldigt seinen Bruder des Wortbruchs, er will zur alten Abmachung zurück, und wenn es sein soll, mit Gewalt. Eteokles wiederum sieht sich in Zeiten der Gefahr als Verteidiger der Stadt. Seinen Wortbruch tut er ab mit "Was ist schon ein Wort? Ein warmer Hauch!". Und außerdem: Welches Interesse hat eigentlich Polyneikes Ziehvater, wenn er ihm ein Heer zur Verfügung stellt? Sieht sehr nach feindlicher Übernahme aus, umso wichtiger ist sein Verteidigungsauftrag!
Es kommt, wie es kommen muss. In der Schlacht vor der Stadt sterben beide Brüder, später wird man auch Iokaste tot zwischen ihren Söhnen finden. Wieder steht Theben ohne Anführer da. Kreon, der Bruder Iokastes, einer aus der zweiten Reihe, der nie damit gerechnet hat, dass er einmal König von Theben sein soll, wird es nun aber doch.
Die Handlung wird sehr eindringlich dargestellt, dem Publikum ist bald klar, dass die beiden Sturschädel nicht von ihren Standpunkten abweichen werden. Eteokles, der Wortbrecher, ist ein echtes Ekelpack, das nicht einmal vor seiner Mutter Respekt findet.
Damit reiht sich auch der vierte Teil in die Kette der grandiosen Vorstellungen ein. Der Applaus ist dementsprechend.
Antigone
Kreon, der neue Herrscher, versucht es wieder einmal mit Vernunft; wir kennen das inzwischen.
Er befiehlt, dass Polyneikes, der Verräter und Angreifer, wie auch seine gefallenen Mitstreiter nicht beerdigt werden dürfen. Sie werden den Vögeln und Hunden zum Fraß überlassen. Um dieses Verbot durchzusetzen ist bei Zuwiderhandeln die Todesstrafe durch Steinigung vorgesehen!
Eteokles und seine Verteidiger Thebens hingegen werden ehrenvoll bestattet.
Antigone, die Schwester Polyneikes, widersetzt sich diesem Verbot, weil es dem göttlichen Auftrag widerspricht, wie mit Toten umzugehen ist. Wie sollen sie denn ordnungsgemäß im Hades ankommen, wenn sie nicht bestattet wurden?
Kreon steht aber auf dem Standpunkt, dass sein Gesetz über denen der Götter oder Religion steht. Der alte Konflikt weltliche gegen religiöse Macht bricht wieder los. Er steht weiters auf dem Standpunkt, dass sein Gesetz für alle gilt, auch für Antigone. Er besteht also auf der Todesstrafe, lässt sich aber von seiner Umgebung (vor allem seinem Sohn, der auch Antigones Bräutigam ist) überreden, die Steinigung durch lebendiges Einmauern zu ersetzen.
Antigone ist bereits eingemauert, als es endlich gelingt, Kreon zu überreden, dieses eine Mal seine Meinung zu ändern. Aber zu spät: Antigone hat sich in der Höhle an ihrem Brautschleier bereits erhängt.
Diese Vorstellung halte ich leider für wesentlich schwächer als die vorigen. Antigone und ihre Schwester waren eher blass und stimmlich etwas schwach, teilweise auch schwer verständlich. Die Inszenierung insgesamt war mir etwas zu kreischend und stellenweise in die Länge gezogen.
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So, mit der "Antigone" ging der Antiken-Marathon in Hamburg also zu Ende! Vier überragende Vorstellungen und eine fünfte mit ein paar Abstrichen liegen hinter uns.
Ich weiß nicht, wie oft es diesen Marathon noch geben wird. Wer also ein Theaterereignis der Extraklasse erleben möchte, sollte sich noch rasch Tickets dafür besorgen. Denn soviel steht für mich fest: Dieser Marathon ist eine absolute Empfehlung und eine Reise nach Hamburg absolut wert!
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Apropos Hamburg. Wir hatten tagsüber natürlich die Zeit genützt, um uns Hamburg anzusehen. Einen Reisebericht dazu wird es dann in einem eigenen Artikel geben. Zuerst müssen aber noch die Fotos gesichtet und bearbeitet und aussortiert werden. Bis es soweit ist, werden wohl noch einige Tage ins Land ziehen!
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